Erschienen
in: J. Manemann (Hrsg.), Befristete Zeit, Jahrbuch für Politische Theologie Bd.
3 (1999), S. 135-150
Die
Nivellierung der Zeit in der Ökonomie
Karl-Heinz
Brodbeck
»Der
Vernunft kommt es aber zu, ins Unendliche fortzuschreiten.
Wer
darum Reichtümer begehrt, kann danach verlangen,
und
zwar nicht etwa nur bis zu einer gewissen Grenze,
sondern
er will schlechthin so reich sein, als er nur immer kann.«
Thomas von Aquin, S. Th. I
44,4[1]
Der
Ratschlag Benjamin Franklins an einen jungen Handwerker: Bedenke, »daß Zeit
Geld ist«[2],
ist zu einem geflügelten Wort geworden. Diese behauptete Identität von Zeit und
Geld ist keineswegs nur eine oberflächliche Zuordnung. Ich möchte zu
zeigen versuchen, daß die Rolle der auf das Geld bezogenen Rationalität auch
den Zeitbegriff der Moderne wesentlich geprägt hat. Der Zwang, immer mehr
Lebensbereiche dem Diktat der Zeitmessung zu unterwerfen, hat seinen Grund in
der immer noch wachsenden Subsumtion des menschlichen Handelns unter
ökonomische Zwecke, unter den Zwang zur Geldvermehrung. Die vielfach
konstatierte Tendenz zur Beschleunigung[3]
ist die Bewegungsform dieses Prozesses.
Das
ökonomische Prinzip
In
der modernen Wirtschaftswissenschaft unterstellt man als Grundlage des
wirtschaftlichen Handelns ein Prinzip (ökonomisches Prinzip), das als Maximierung
eines Zwecks bei gegebenen Mitteln definiert wird.[4]
Dieses Prinzip wird generell als »Rationalitätspostulat« bezeichnet, und man sieht
in diesem Prinzip eine elementare Forderung an menschliches Handeln unter
den Bedingungen der Güterknappheit.
Genauer gesagt wird das Rationalprinzip des ökonomischen Handelns aus der
allgemeinen Knappheit von Gütern abgeleitet. Der Grundgedanke scheint einfach:
Die menschlichen Bedürfnisse sind qualitativ unbestimmt, unterliegen nur der
Schranke der Einbildungskraft, ihre Befriedigung bedarf aber immer auch
materieller Güter, die auf einer beschränkten Erde nur in bestimmter Quantität
verfügbar sind. Aus diesem Gegensatz einer qualitativen Unbegrenztheit der
Bedürfnisse und den endlichen Mitteln zu ihrer Befriedigung ergibt sich
(wenigstens für die Mehrzahl der Güter) ein Spannungsverhältnis, das als
»Knappheit« erscheint und ein Handeln zu ihrer Bewältigung erfordert. Wie diese
Knappheit bewältigt wird, das macht die Differenz unterschiedlicher
Wirtschaftssysteme aus.
Bleibt
das menschliche Handeln beschränkt durch eine tradierte Ordnung, die zugleich
auch immer eine Einbindung in die natürliche Umwelt bedeutet, so sind es die
Gesetze eines Staates, das Herkommen oder die moralischen Regeln, durch die der
Umfang der Bedürfnisse auf die gegebenen Mittel begrenzt wird. Die Zeit fällt
in dieser Form des Wirtschaftens zusammen mit den natürlichen Rhythmen:
Erntezeiten, Laichzeiten für Fische, die Zeitdauer für die Zucht von Haustieren
usw. Die Beschreibung solcher Wirtschaftsformen finden wir in der
überlieferten Hauswirtschaftslehre, der Oikonomia.[5]
Die Erde steht im Mittelpunkt; der Umlauf der Sonne und des Mondes bildet das
Zeitmaß im Einklang mit den Rhythmen der Jahreszeiten. Zwar kann man sagen, daß
auch in dieser Wirtschaftsweise das Prinzip der Sparsamkeit, der »ökonomischen«
Mittelverwendung Gültigkeit hat. Doch dieses Prinzip ist in der sozialen,
rechtlichen und ethischen Form implizit. Der Besitz ist stets von
konkreter Gestalt, und die »Beschäftigung mit Besitz ist eine, die in Einklang
mit der Natur steht.«[6]
Als »ökonomisches Problem« ergibt sich hier, wie Aristoteles sagt, der Erwerb
des Besitzes und seine Erhaltung, vor allem aber das »in Ordnung halten« und
»der rechte Gebrauch«.[7]
Die
Rationalität der Geldvermehrung
Der
Grund dafür, daß das »Rationalitätspostulat« als äußeres Prinzip des
Handelns formuliert wurde, liegt in einer zunächst schleichenden, später
rasanten Veränderung des ökonomischen Prozesses. Zwischen verschiedenen
bäuerlichen Hauswirtschaften oder Handwerkern fand schon in alter Zeit ein
Austausch statt. Es war allerdings ein Austausch innerhalb einer
Ordnung. So sind in Babylon in der Gesetzestafel Hammurabis Tauschrelationen
zwischen Gütern in Stein gehauenes Gesetz. Auch Aristoteles berichtet noch von
Marktaufsehern, die Preise überwachen.[8]
In diesem Austausch spielten die Kaufleute zunächst nur die arbeitsteilige
Rolle des Tauschvermittlers. Geld ist hierbei vor allem ein Rechen- und
Tauschmedium.
Allerdings,
und Aristoteles hat im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik darauf
hingewiesen, kann das Geld diese Funktion nur erfüllen, wenn es auch dann
Maßstab bleibt, falls nicht aktuell getauscht wird. Hier tritt auf
eigentümliche Weise die Zeit in Beziehung zum Geld. Die Produktion von Gütern
unterliegt jeweils eigenen Rhythmen, eigenen zeitlichen Mustern. Der Tausch ist
nicht nur dadurch eine Koordination arbeitsteiliger Tätigkeiten, daß der
»Baumeister mit dem Schuster« Waren austauscht; er bringt auch die
unterschiedlichen Produktionszeiten in einen Ausgleich. Der Hausbau, das
Fertigen von Schuhen und die Ernte von landwirtschaftlichen Produkten fallen in
der Herstellung zeitlich und sachlich auseinander. Nur eine allgemeine Ware,
die ihre Funktion, Maßstab im Tausch zu sein, über die Zeit hinweg behält, kann
deshalb die Rolle des Vermittlers arbeitsteiliger Prozesse spielen. Aristoteles
nennt diese Funktion des Geldes die eines »Bürgen«[9].
Geld ist als Zahlungsmittel ein Bürge in der Gegenwart für künftigen
Austausch. Der Kaufmann verkörpert ursprünglich diese Funktion des Bürgen.
Durch
die Entwicklung des Geldwesens trat jedoch bereits sehr früh ein neues, ganz
anderes Ziel in der kaufmännischen Vermittlungstätigkeit hervor. Platon und
Aristoteles bekämpften es mit Nachdruck, gleichzeitig bezogen sie die darin
aufscheinende ganz andere Form der Rationalität schon in ihre Philosophie mit
ein. Die Rede ist vom Zins. Als »Bürge« sind die Kaufleute Eigentümer
von Geld; und daraus erwuchs das Ziel, das sich nun nur noch auf
die reine Quantität des Geldes bezog. Geld wurde so zum zinstragenden Kapital.
Während
hauswirtschaftliches oder technisches Handeln stets in seinem konkreten Zweck
ein Maß besitzt, ist das Streben nach einer Vermehrung des Geldes um des Geldes
willen in seiner Natur ohne Ende, ohne Grenze, es ist »unendlich«.
Aristoteles kritisierte aus eben diesem Grund das Bestreben, den Geldbesitz
»ins Unbegrenzte« zu vermehren; er sagte, dies sei »am meisten gegen die
Natur«.[10]
Diese Geldvermehrung im Zins wird von Aristoteles (und in der mittelalterlichen
Philosophie) als ein quasi »parasitäres« Ziel verstanden. Der Kaufmann
privatisiert eine soziale Funktion (die Tauschvermittlung) zu seiner
Bereicherung.
Doch
damit nicht genug. Das Streben nach Geldvermehrung um des Geldes willen kehrt
das Verhältnis von Handwerk (Produktion) und Austausch schrittweise um. Die
Kaufleute beginnen, zur Erlangung eines Zinses, im Interesse der
Geldvermehrung, die gesamte Produktion diesem Ziel zu unterwerfen. Das
unendliche Streben der »Kaufmannsseele«[11]
unterwirft schrittweise das Handwerk, die Agrarwirtschaft und stürzt die
soziale Produktion in einen unaufhörlichen Wandel. Denn es liegt in der Natur
dieses »widernatürlichen« Strebens nach unendlicher Geldvermehrung, daß es nie
sein Ziel erreichen kann. Es gibt keine aktual-unendliche Geldsumme. Der
Widerspruch zwischen dem unendlichen Zweck der Geldvermehrung und der
Endlichkeit der Mittel für diesen Zweck entfaltet sich deshalb zeitlich,
als Prozeß der permanenten Umwälzung der Mittel.[12]
Das menschliche Handeln wird in immer mehr Bereichen diesem endlosen Ziel
unterworfen. In der Gegenwart erreicht dieser Prozeß seinen globalen
Kulminationspunkt.
»Geld
auf Zeit« - der Zins
Die
Konsequenzen dieser Entwicklung sind schier unüberschaubar und durchziehen
nicht nur alle Bereiche menschlichen Handelns, sie finden auch ihren
Niederschlag im Denken, ja in der Metaphysik. Es ist notwendig, zur Erläuterung
dieser Dynamik kurz auf die Eigentümlichkeit der Verzinsung einer eingesetzten
Geldsumme zu blicken. Der Zins ist in seinem innersten Wesen ein Zeitphänomen.
Eine vorgeschossene Geldsumme soll - nach einer Zeitspanne - vermehrt
zurückfließen werden. Diese allgemeine Struktur des Zinsphänomens umfaßt drei
unterschiedliche Aspekte: den Zins auf verliehenes Geldkapital, den
Unternehmensgewinn sowie reine Preisänderungen, die - durch die
Privatisierung von Marktprozessen im kaufmännischen Interesse - zu
Spekulationsgewinnen führen. Diese letztere Form des »Zinses« ist in der
Gegenwart zu einer dominanten Gestalt geworden. In allen drei Fällen spielt die
Zeit, das Timing eine wesentliche Rolle. Kapital wird in der
betriebswirtschaftlichen Literatur als »Geld auf Zeit« definiert. Es ist eine
Geldsumme (verkörpert in irgendeiner Anlageform), die nach einer Zeitspanne vermehrt
zurückfließt. Je kürzer die Zeitspanne ist, desto eher erlaubt dies die
Wiederanlage des Kapitals, um erneut einen Zins abzuwerfen.
Durch
das kaufmännische Zins- oder Gewinnstreben taucht damit ein eigentümliches Ziel
menschlichen Handelns auf, das sich in seiner Zeitlichkeit von den natürlichen
Rhythmen der Produktion vollständig zu emanzipieren trachtet. Die schrittweise
Gewinnung der Herrschaft über die Produktion im Dienst des Marktes ist zugleich
eine Eroberung der Zeit. Man holt den Lauf der Gestirne in Planetarien auf die
Erde, woraus sich die mechanische Uhr als universelles Meßinstrument der
Zeit entwickelt. An die Stelle des Umlaufs der Sonne tritt der Schlag der Kirchturmuhr. Wir tragen heute die »Zeit«
als Uhr am Arm stets bei uns. Je schneller ein Vorgang abgewickelt wird,
desto rascher kehrt die eingesetzte Geldsumme in die Hände dessen zurück, der
sie vorgestreckt hat: In die Hände des Kapitalgebers, des Kapitalisten. Das
allgemeine Resultat der Unterwerfung aller menschlichen Lebensbereiche unter
die Herrschaft des Geldes, des Marktes und des damit verbundenen Strebens nach
Kapitalverzinsung ist eine kontinuierliche Beschleunigung.[13]
Der
Zinssatz ist das Verhältnis zwischen zusätzlichem Geldbetrag (Zins) und
dem im Ausgangszeitpunkt eingesetzten Kapital. Formal ist der Zinssatz
die Urform einer Wachstumsrate. Was Wachstum heißt, wird zunehmend
bewußt durch die Schranken, auf die ein unaufhörliches Wachstum stößt.
Eine Wirtschaft, die einen langfristig konstanten Zinssatz
erwirtschaften soll, muß mit einer konstanten Rate wachsen. Einer Wachstumsrate
von 3% entspricht ein Verdopplungszeitraum von 23 Jahren; eine
Wachstumsrate von 10% führt bereits nach 7 Jahren zu einer Verdopplung
entsprechender Größen (Sozialprodukt, privater Verbrauch, Energieverbrauch
usw.). Wenn die Steigerung des Zinssatzes (Rendite, return of
investment, relativer Kursgewinn etc.) erst zum allgemeinen Ziel
wirtschaftlichen Handelns geworden ist, zieht dies im präzisen Sinn eine
Beschleunigung aller durch die Ökonomie dominierten Prozesse nach sich.
Diese
auch von ökologischen Autoren ins Bewußtsein gehobenen Zusammenhänge zwischen
Wachstum und Verdopplungszeiträumen haben ihren Grund in einer ökonomischen
Struktur, deren Bezug zur Zeit meist gar nicht gesehen wird. Die Herrschaft des
Ziels der Kapitalverzinsung unterwirft nicht nur eine ganze Welt ökonomischen
»Sachzwängen« - insofern ist der Kaufmann der »Herr der Welt« - sie führt auch
zu einer permanenten Beschleunigung aller Abläufe und Prozesse. Wenn
Theodor Haecker vom »Fürst dieser Welt« sagt, »er beschleunigt ihren Gang; und
das ist das teils offenkundige, teils geheime Geschehen unserer wie aller Tage
auf der ganzen Welt«[14],
dann können wir diesen apokalyptisch gemeinten Satz als einfache Folgerung aus
der Struktur dessen ableiten, was Max Weber die »Kaufmannsseele« nannte.
Mechanische
Zeit
Die
Unterwerfung der Welt unter das Maß des Geldes und der Zwang zur Beschleunigung
aller Abläufe als Schatten des Strebens nach Kapitalverzinsung hat auch das Denken
tief geprägt, und diese Prägung, obgleich sehr naheliegend, ist gerade wegen
dieser Nähe gerne übersehen worden. Bereits in der Philosophie von Aristoteles,
der das Zinsnehmen strikt bekämpfte (wie Platon vor ihm), zeigen sich Spuren
jener sozialen Struktur, die sich anschickt, alles Handeln der Zahl, der
bloßen Quantität zu unterwerfen. Zwar bekämpfte Aristoteles die pythagoräische
Idee des späten Platon, daß Ideen letztlich Zahlen seien, doch auch er
begreift die Zahlen als etwas, das die Dinge einhüllt und subsumiert. Vor allem
die Zeit wird von ihm in diesem Horizont ausgelegt. Zeit ist »das Maß
der Bewegung«, genauer bestimmt als »die Zahl der Bewegung«.[15]
Die philosophische Abstraktion des »Einen«, an dem sich das »Viele« mißt,
findet seine soziale Form im Geld; jener Größe, die nach der Lehre der
Nikomachischen Ethik »durch ein gemeinsames Maß« die Gemeinschaft der
Tauschenden herstellt.[16]
Ich
will keineswegs sagen - wie das marxistische Autoren oder auch Adorno nahelegen
-, daß das Prinzip der Abstraktion aus dem Tausch erwachsen ist oder
diesen nur »widerspiegelt« - eine Auffassung, die übrigens auch von liberalen
Ökonomen vertreten wurde.[17]
Wichtig ist die Einsicht, daß das menschliche Handeln immer schon ein mit
Bewußtsein vollzogenes ist, daß also sich die Formen des Denkens und Tuns
gleichursprünglich wandeln werden und müssen. (Jede »Widerspiegelung« beruht
auf einer Kausalitätsvorstellung zwischen getrennten Entitäten - Handeln
ist aber als bewußte Tätigkeit in sich Denken und Tun.[18])
Geldverwendung und abstrakte Reflexion gründen in einem Typus menschlichen
Handelns, das die platonische Trennung in Ideenschau und handwerklicher
Verrichtung übersteigt. Das Novum kaufmännischen Handelns ist auch ein Novum im
Denken: die abstrakte Berechnung von dem Denken zu unterwerfenden Gegenständen.
Schon
die Wortbedeutung von ratio weist darauf hin: ratio heißt
ursprünglich »Rechnung«, »Rechnungen stellen«, aber auch »Geldgeschäfte
abwickeln«, erst daraus abgeleitet findet sich die Bedeutung von
»Gesetzmäßigkeit«, »Denkart«, »Beschaffenheit« und schließlich »Grund« und »Vernunft«.[19]
Das Ziel, die ganze Welt der Zahl zu unterwerfen, die Natur rein quantitativ
auszulegen, wird zum Programm der Moderne und zu ihrer Rationalität. Wenn
Descartes Körper in den Raum und den Raum durch die analytische Geometrie
wiederum in die Zahl auflöst, dann wird dieser Horizont unabweisbar. Hobbes
spricht ihn explizit aus: »Unter rationeller
Erkenntnis vielmehr verstehe ich Berechnung«[20].
Die
Naturwissenschaft entwickelte sich als mechanische Denkform, in der das
Modell der Maschine eine zentrale Rolle spielt. Und das Vorbild aller Systeme
und Maschinen ist die Uhr. Die Uhr wird zum Weltmodell, ein Modell, das -
einmal formuliert und zur Anschauung gebracht - wiederum umgekehrt zur
Erklärung des Planentenlaufs herangezogen wird. Newtons Physik ist die -
freilich nur vorläufige - Vollendung dieser Denkform. Die Zahl, die an der
Bewegung des Uhrzeigers abgelesen wird, ist die Verwirklichung der
aristotelischen Zeitdefinition, Vorbild aller Meßgeräte und bis zur modernen
Physik Grundlage des Zeitbegriffs: Zeit ist definiert durch die an »der Uhr ...
gezählten gleichartigen Teilvorgänge«[21].
Dieser
mechanische Zeitbegriff wurde auch zum Modell der Zeitauffassung in jener
ökonomischen Theorie, die heute weltweit als Paradigma akzeptiert wird (in der
Nachfolge der klassischen Ökonomie von Adam Smith als »neoklassisch«
bezeichnet). Sie übernimmt das Weltbild der mechanischen Physik und
Philosophie, und bereits Adam Smith hat den Weg hierfür vorgezeichnet. Die
ökonomische Wissenschaft wird zu einer apologetischen Ästhetik, in der das
Wunder des Marktes und seiner Funktionen gepriesen wird: »Es macht uns Vergnügen,
die Vervollkommnung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten
und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten
die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt
haben.«[22]
Als Vorbild eines »Systems« gilt für Adam Smith die Maschine: »Ein System ist eine
imaginäre Maschine, die in der Vorstellung jene verschiedenen Bewegungen
und Effekte verbindet, die in der Wirklichkeit ohnehin verbunden sind.«[23]
In
dieser mechanischen Auffassung des menschlichen Handelns, die durch den
Neoliberalismus in der Gegenwart geradezu zu einer Verklärung des Marktes
geführt hat, verbirgt sich eine Zeitauffassung, die in der Physik schon
lange als überwunden gilt. Leitbild der modernen Wirtschaftswissenschaft ist
das »Gleichgewicht«. Das ist nicht verwunderlich, weil mechanische Gesetze
dadurch charakterisiert werden können, daß jegliche Dynamik auf die Statik
reduzierbar ist.[24]
Die Mechanik kennt eigentlich nur relative Bewegungen von Körpern
zueinander, und weil auch die Uhr »ein Körper bzw. ein körperliches System in diesem
Sinne«[25]
ist, weil Bewegungen durch Gleichungen beschreibbar sind, wird die Zeit aus der
Mechanik eliminiert. Wahr ist nur die raum- und zeitlose Ordnung der
Naturgesetze; alle Bewegung ist Schein. Dieser Platonismus der relativistischen
Physik[26]
führt mit der Übernahme des mechanischen Denkmodells in den
Wirtschaftswissenschaften dort zu sehr seltsamen Konsequenzen.
Ich
möchte einige dieser Konsequenzen kurz skizzieren.[27]
Die wichtigste Konsequenz, auch unmittelbar für die Wirtschaftspolitik, ist das
Leitbild, das Ideal der »Stabilität«. Mechanische Systeme können nur
existieren, wenn sie stabil sind. Instabilität ist in der Mechanik identisch
mit einer Zerstörung des Systems. Da das wirtschaftliche Leben vielfach
Veränderungen zeigt, muß man alle Veränderungen in Preisen und Produktions-
oder Verbrauchsmengen als Bewegung auf ein Gleichgewicht hin deuten.
Preisbewegungen sind nur Schwankungen um einen Gleichgewichtspreis, um einen
Trend. Eine analytische Methode, die Zeit unmittelbar
auszuschalten, besteht in dem, was die Ökonomen »Periodenanalyse« nennen. Sie
wählen eine »Zeitscheibe« und betrachten in dieser Zeitscheibe nur
unveränderliche Zustände, Gleichgewichte; und auch ein Ungleichgewicht wird als
Abweichung vom Gleichgewicht definiert.
Die
praktische Schwierigkeit dieses Gedankens liegt schon darin, daß der Ort
des Gleichgewichts unbekannt ist. Ich will das an zwei Beispielen
verdeutlichen. Wenn die Forderung erhoben wird, daß die Löhne »zu hoch« seien,
so ist zwar das Leitbild eines Gleichgewichts, das verfehlt wurde,
unverkennbar; diese Forderung erweist sich aber als leer, weil das Lohnniveau,
bei dem »Vollbeschäftigung« herrschen würde, unbekannt ist - in einer durch
Innovationen permanent umgewälzten Wirtschaft notwendig unbekannt bleiben muß. Ein
weiteres Leitbild ist das »stabile Preisniveau« in der Geldpolitik - in
jüngster Zeit auch von der europäischen Zentralbank verkündet. Nun ist zwar
eine Hyperinflation (wie 1923) sicherlich ein dynamisch-instabiles
Phänomen, doch daraus ist keineswegs der Schluß zu ziehen, daß eine
Inflationsrate von exakt Null wünschenswert wäre. Wichtige Argumente, auf die
schon David Hume hinwies, sprechen dagegen.[28]
Auch hier ist die Hauptschwierigkeit darin zu suchen, daß der statische
Begriff des Gleichgewichts in einer dynamischen Wirtschaft in die
Irre geht. Man kann dies leicht daran erkennen, daß es ein exaktes Maß
für Preisstabilität nicht geben kann: Durch Qualitätsänderungen, das
Ausscheiden alter und das Hinzukommen neuer Güter muß jede Preismessung mit
einem unveränderlichen Warenkorb Fehler ausweisen.
Die
Wirtschaftstheorie wird durch die Anwendung des mechanischen
Denkmodells, das heute immer noch das gültige, ja sogar vermehrt
popularisierte Paradigma in den Wirtschaftswissenschaften ist, in geradezu absurde
Konsequenzen getrieben. Die mechanische Modellzeit beruht auf der These,
daß alle Bewegungen, alle Prozesse mit Uhren synchronisiert sind oder werden
können. Das Gesamtsystem aus bewegten Teilen und Uhr ist jedoch
zeitlos. Die Frage nach der »Lebensdauer« eines bewegten Körpers ist sinnlos -
deshalb wird auch in der Anwendung der Mechanik auf die Ökonomie die
wirtschaftende Person aller menschlichen Eigenschaften entkleidet. Die
neoklassische Standardökonomie unterstellt »ein weder alterndes, noch je sterbendes
Individuum«.[29]
Das ist nur die zur Anschauung gebrachte Vorstellung der Zeitlosigkeit,
die einem mechanischen Modell zugrunde liegt. Zeitlosigkeit ist eigentlich Ewigkeit,
also für die handelnden Subjekte dieser Modellwelt »Unsterblichkeit«.
Der
mechanische Horizont zeitigt allerdings noch weitere Konsequenzen, die nicht
weniger absurd anmuten. Und ich betone nochmals, daß es sich hier um heute
allgemein anerkannte Theorien handelt: So wurde Gary S. Becker für seine
Anwendung der ökonomischen Modelltheorie auf nichtökonomische Lebensbereiche
1992 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Ein Teil seines Arbeitsgebietes ist
die Gesundheitsökonomie, und hier kommt Becker zu dem erstaunlichen Ergebnis:
»Entsprechend dem ökonomischen Ansatz sind die meisten (wenn nicht
alle!) Todesfälle
bis zu einem gewissen Grade ›Selbstmorde‹«[30]
Ein anderer Nobelpreisträger - Robert Lucas - wurde 1995 geehrt für seine
Theorie der »rationalen Erwartungen«. Sie unterstellt, daß die wirtschaftlich
Handelnden alle relevanten Informationen im Wirtschaftsprozeß kennen und
verwerten, mit der Konsequenz, daß sie künftige Preise vorwegnehmen, also durch
Preisänderungen nicht mehr überrascht werden können. Dieser Gedanke impliziert
nichts weniger als vollkommene Voraussicht - übrigens in der
Standardökonomie eine fast allgegenwärtige »Annahme«. Eine völlig bekannte und
berechenbare Zukunft verliert aber den Charakter, Zukunft zu sein, sie
gehört nicht mehr der zeitlichen Ordnung an. Man braucht kaum darauf
hinzuweisen, daß ein »rationaler Aktor«, mit vollkommener Voraussicht und
vollkommener Kontrolle über seine Lebensspanne (wenn nicht unsterblich), sicher
kein Mensch ist.
Freiheit und Nichtprognostizierbarkeit
Der
Inhalt der ökonomischen Theorie ist - die wenigen Zitate konnten das
schon zeigen -, im Sinn einer Erklärung unhaltbar. Menschen haben keine
vollkommene Voraussicht, sie reagieren nicht mechanisch auf Preisänderungen,
und schon gar nicht verfügen sie über ihre Lebensspanne im Sinn eines
ökonomischen Kalküls. Unsere Sterblichkeit, von den Alten sogar als Definition
des Menschen aufgefaßt (die »Sterblichen«), spielt in der Ökonomie nahezu keine
Rolle. Menschen leben in einer historischen Zeit. Sie hegen Erwartungen
bezüglich einer Zukunft, die als diese erwartete Zukunft bereits in der
Gegenwart Handlungen bestimmt.[31]
Die grundlegende Unsicherheit der Zukunft wäre sogar ein wesentlicher
Grund für die Erklärung zahlreicher ökonomischer Phänomene, z. B. für die
Bildung von Geldhorten, um kurzfristig zahlungsfähig zu sein.
Die
traditionelle, mechanische Erklärung wirtschaftlichen Handelns stellt
eigentlich physikalische Fragen: Wie kann eine Vielzahl von autonomen Individuen-Atomen,
durch Nutzen- oder Gewinnmaximierung motiviert, ihre vielen Handlungen koordinieren?
Genauer gesagt: Wie kann es gelingen, daß wirtschaftliches Verhalten mit einer Uhr
synchronisiert wird? Was bei physikalischen Körpern schließlich zu einem
zeitlosen Gesamtsystem führt, ist für menschliches Handeln ein
bleibendes Rätsel. Menschen sind keine bewegten Atome. Ihre Handlungen
unterhalten keine innere Relation zu einem bewegten Körper »Uhr«.
Zwar können äußere Handlungsabläufe durch Uhren koordiniert werden; doch dies
ist nicht das Wesen menschlichen Handelns. Es ist vielmehr jene Arbeit, die
Aristoteles als Tätigkeit eines Sklaven bestimmt hat und das formal
durchaus einer Maschine analog ist.
Dies,
daß Menschen ein Bewußtsein von Zeit, daß sie eine Vergangenheit und
Zukunft haben, daß sie sterblich und vergänglich sind, dies prägt
auch das Handeln. Ein Bewußtsein von Zeit zu haben, das heißt auch: frei und
kreativ sein zu können. Während ein Körper auf eine Einwirkung nur im
Rahmen der physikalischen Gesetze reagiert, gibt es beim menschlichen Handeln
die Möglichkeit einer kreativen Reaktion[32].
Diese kreative Reaktion hat eine doppelte Konsequenz: Sie verhindert erstens,
daß man eine Handlungsweise entlang einer Zeitgerade mechanisch mit anderen
Verhaltensweisen verkoppelt könnte, wie dies zwischen einem bewegten
mechanischen Körper und einer Uhr möglich ist. Zweitens wird für andere
die Reaktion auf eine Änderung von Situationen eben dadurch unvorhersehbar.
Niemand kann sagen, ob eine Firma auf sinkende Marktpreise mit Kostensenkungen,
Fusionsverhandlungen oder mit einem neuen Produkt reagiert.
Kreative
Reaktion heißt für die Wirtschaft insgesamt, daß Abläufe nicht prognostiziert
werden können - auch nicht als Aggregat. Der aus der Thermodynamik
entlehnte Gedanke, die Unvorhersehbarkeit mikroökonomischer Strukturen
könne dennoch makroökonomisch zu einfachen zeitlichen Bewegungsmustern
führen, ist nicht haltbar. In der Thermodynamik kann man zwar sehr genau die
Temperatur messen, ohne die Bewegung der einzelnen Luftmoleküle kennen zu
müssen. Doch diese Moleküle verfügen eben nur über eine, zudem exakt
berechenbare Reaktionsweise (beschrieben durch die Mechanik). Menschen können kreativ
reagieren - sind damit unvorhersehbar -, sie können aber auch ihre
Bewegungen durch vielfältige andere Kommunikationsformen koordinieren.
Lange, bevor sie in einen ökonomischen Austausch treten, sind sie
bereits durch Sprache, Familie, Religion etc. in einen sozialen Zusammenhang
eingebunden. Sie bewegen sich nicht wie Moleküle in einem leeren Raum.
Übrigens
hat sich auch in der Naturwissenschaft (z. B. bei Klimamodellen) gezeigt,
daß die Bewegung relativ einfacher Moleküle makroskopisch nicht einfach
prognostiziert werden kann. In der Chaos-Theorie erscheinen zeitliche
Abläufe zwar als determiniert (wie in der Mechanik), sind aber so sensibel von
den Anfangsbedingungen abhängig, daß Prognosen schwer oder unmöglich werden.
Doch auch die Anwendung solcher Modelle für ökonomische Abläufe würde
den Zeitbegriff unverändert lassen.[33] Denn chaotische Systeme setzen in ihrer
mathematischen Form eine deterministische Kopplung zur Zeit voraus.
Menschen bauen zwar Uhren und orientieren sich daran, aber sie sind in ihrer
Freiheit nicht durch den Bezug zur Uhr bestimmt. Die mechanische
Ökonomie verfehlt also ihren »Gegenstand«: den frei und kreativ denkenden und
entscheidenden Menschen, der Vergangenheit und Zukunft in das Jetzt seines
Handelns einbezieht.
Ökonomie
als implizite Ethik
Durch
das Bestreben, die physikalische Form der Theorie zu übernehmen und auf
wirtschaftliche Tatbestände anzuwenden, gelangt die Wirtschaftswissenschaft -
wie wir sahen - zu Konsequenzen, die »unrealistisch« zu nennen eine
Untertreibung wäre. Der Grund ist allerdings einfach erkennbar, und er bezieht
sich unmittelbar auf die Auslegung der Zeit in der Ökonomie. Wenn eine
physikalische Theorie behauptet, das Verhalten von Körpern sicher
prognostizieren zu können - vom Autobau bis zum Flug eines Space-Shuttles wird
diese Voraussetzung praktisch umgesetzt -, so unterscheidet sich diese Form der
Prognose grundlegend von den Prognosen in den Wirtschaftswissenschaften.
Die Vorhersage, daß gemäß der Bewegung von Erde und Mond an einem bestimmten
Tag Vollmond herrschen wird, ist völlig unabhängig von der Theorie.
Anders in der Ökonomie. Hier ist der »Gegenstand« nicht ein toter Körper,
sondern ein lebender Mensch, der zudem fähig ist, theoretische Vorhersagen in
seinen Handlungen zu berücksichtigen und sein Handeln entsprechend zu modifizieren.
Gäbe es also eine korrekte Theorie künftiger Preisbewegungen, so würde
das spekulative Interesse in der Anwendung dieser Theorie verhindern,
daß die Vorhersagen der Theorie eintreffen. (Werden zuerst sinkende, dann
steigende Aktienkurse »zutreffend« prognostiziert, dann würden sich Händler im
Kurstief mit Aktien eindecken, also solange kaufen, bis die Baisse sich in eine
Hausse verwandelt hätte. Diese Anwendung der Theorie wäre zugleich ihre
Falsifikation.)
Die
zeitliche Beschreibung von potentiell freien Handlungen unterscheidet
sich notwendig und grundlegend von der Beschreibung toter Bewegungen von
Körpern. Die Zeit des Handelnden ist eine andere als die Zeit leblosen
Verhaltens. Der bewußt Handelnde hat eine Zukunft, und dieses gegenwärtige
Haben einer Zukunft verhindert, daß mechanische Beschreibungen wirtschaftlicher
Prozesse zutreffend sein können. Genauer gesagt: Sie können nur dann zutreffen,
wenn freie Entscheidungen durch äußeren Zwang verhindert oder durch innere
Gewohnheit einem, mechanischen Strukturen gehorchenden, Gesetz folgen. Nun
spielen Gewohnheiten in der Wirtschaft
eine zentrale Rolle. Doch Gewohnheiten (des Produzierens, Konsumierens,
in der Wirtschaftspolitik) sind immer veränderbar und werden gerade
durch das permanente Gewinnstreben kaufmännischen Handelns unaufhörlich
aufgelöst. Gewinne erwachsen aus Veränderungen (Innovationen), während
die Wiederholung des Gleichen das Handeln für Wettbewerber berechenbar und
damit profitabel manipulierbar macht.
Die
Frage ist also nicht, weshalb die mechanischen Bilder der
Wirtschaftswissenschaft schlicht unzutreffend sind, die Frage lautet
vielmehr: Weshalb werden sie entwickelt, verteidigt, ausgebaut und gelehrt?
Prognosen von Wirtschaftswissenschaftlern werden nicht einmal von ihnen selbst
wirklich ernst genommen, aber sie werden immer wieder gemacht und öffentlich
diskutiert (etwa bei der Veröffentlichung des monatlichen Berichts der
Zentralbank oder bei der Vorstellung eines Gutachtens von Sachverständigen aus
Forschungsinstituten). Würde je ein physikalisches Modell, das etwa die
Flugbahn von bewegten Körpern beschreibt, wiederholt angewendet, wenn es in
dieser Anwendung permanent scheiterte? Man braucht die Frage nur zu
stellen, um auf die grundlegende Diskrepanz zwischen Natur- und
Wirtschaftswissenschaft hinzuweisen. Damit wird aber die Frage nur noch
unabweisbarer: Weshalb werden offenkundig empirisch irrelevante Theorien
überhaupt vertreten?
Die
Theorien der Wirtschaftswissenschaften werden durchaus angewendet, dies
allerdings völlig anders als naturwissenschaftliche Sätze in der Praxis der
Technik. Ökonomie ist keine empirische Theorie, sie ist eine implizite
Ethik. Sie besitzt zwar formal die Struktur einer erklärenden Wissenschaft,
aber sie erfüllt eine andere Funktion: »Erklärungen« in der Ökonomie sind faktisch
Handlungsanleitungen und deshalb implizit moralische Sätze.[34]
Es ist keine explizite Morallehre, die als solche auftritt. Die moral
science »Ökonomie« schreibt Handlungen dadurch vor, daß sie Handlungserklärungen
in politische Ziele oder in Prognosen für politisches Handeln
verwandelt. An die Stelle eines moralischen Gesetzgebers treten »ökonomische
Notwendigkeiten«. Sie heißen »Sachzwang«, »Effizienzsteigerung«,
»Globalisierung« usw. Die ökonomische Theorie erfüllt eine Funktion als Ethik
des wirtschaftlichen Handelns, denn durch die ihre Thesen werden Deregulierung,
Geld-, Steuer- oder Lohnpolitik als »wirtschaftliche Notwendigkeit« behauptet
und der Egoismus der Wettbewerbsgesellschaft als conditio sine qua non
des mechanischen Gleichgewichts verklärt. Faktisch dient die
Wirtschaftswissenschaft dem, was wir oben als die »allgemein Beschleunigung«
aller ökonomischen Prozesse beschrieben haben, als Effizienzsteigerung und
wachsende Macht der Geldziele über alle Lebensbereiche. Die
Wirtschaftswissenschaft ist keine bloße »Nebelbildung« einer autonomen
ökonomischen Basis, wie Marx vermutete, denn es gibt kein wirtschaftliches
Handeln ohne Handlungsbewußtsein - und dieses Handlungsbewußtsein hat
sich in der Moderne als »Wissenschaft« konstituiert. Sie ist die theoretische
Form, in der sich kaufmännisches Handeln als wirtschaftliche, technische
und politisches Macht weltweit durchsetzt und etabliert.
Die
unumschränkte Herrschaft des Marktes, Voraussetzung eines globalen
kaufmännischen Tuns, wird in der modernen Wirtschaftswissenschaft dadurch
zur praktischen Forderung, daß sie Marktprozesse als mechanische, autonome
Strukturen beschreibt, die aus sich selbst heraus ein Gleichgewicht
finden. Durch die Erklärung, der Markt finde bei aller Bewegung immer ein
mechanisches Gleichgewicht - dies ist das »klassische Dogma« der Ökonomie[35]
-, ist die Forderung impliziert, alle Handlungen an dieser Marktlogik der
»Effizienz«, der »Gewinnorientierung« auszurichten. Die meist zaghaft und nur
selten massiv vorgetragene Kritik, der Markt könnte aus sich selbst auch
Situationen hervorbringen, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung und
künftiger Generationen nachteilig sind, wird in der Regel mit dem
Hinweis auf die Unvermeidlichkeit, »sich den Herausforderungen der
Globalisierung zu stellen«[36],
beiseite geschoben. Das ist der Grund, weshalb jede Kritik an den
Wirtschaftswissenschaften abgleitet und in der Gegenwart sogar zu einem
unvermuteten Triumph schon lange überholt geglaubter Theorien wie dem
Neoliberalismus geführt hat.
Stationäre Utopie oder ökonomische
Apokalypse?
Die
Wirtschaftswissenschaft hat den offenkundigen Widerspruch zwischen ihrer
mechanisch-statischen Form und der auf unvorhersehbaren Entscheidungen
beruhenden Wirtschaft zwar verspürt, aber auf ihre sehr eigentümliche Weise
aufgegriffen. Die immer wieder behauptete Tendenz hin zu einem Gleichgewicht,
das dennoch empirisch nie beobachtet wurde, führte zu einer für die
Ökonomie charakteristischen Denkfigur. Da die »Gesetze« der
Wirtschaftswissenschaften mechanischen und damit statischen
Gleichgewichtscharakter besitzen, mußten die Ökonomen zugestehen, daß dieses
Gleichgewicht aktuell nicht existiert. In der Zeit der klassischen
Nationalökonomie empfanden die Ökonomen noch diesen Widerspruch unmittelbar und
versuchten, ihn aufzulösen.
Heinrich
von Thünen hat dies sehr klar ausgesprochen. »In der Wirklichkeit«, sagt er,
»ist alles Erscheinende nur Übergangsstufe zu einem unerreichten noch fernen
Ziel.«[37]
Also ist die beobachtete Wirklichkeit nur eine Bewegung auf das Gleichgewicht
hin, und Thünen begreift dies nicht als temporäre Marktanpassung, sondern als historischen
Prozeß. Was an der Gegenwart unverständlich erscheint, kann gar
nicht begriffen werden, weil Gleichgewicht (Berechenbarkeit) und Vernunft
Synonyme zu sein scheinen. Doch in der utopischen, fernen Zukunft herrscht dann
jene Ordnung als Wirklichkeit, die bereits heute das Modell analysiert wird:
»Mit dem erreichten Ziel tritt Ruhe und damit der beharrende Zustand ein )
und hier erblicken wir Gesetzmäßigkeit, während in der Übergangsperiode
Manches uns als ein unentwirrbares Chaos erscheint.«[38]
Auch
der einflußreiche schwedische Ökonom Knut Wicksell löste die Frage auf diese
Weise. Er bemerkte, daß viele der von der ökonomischen Theorie postulierten
Zusammenhänge empirisch nicht zu beobachten sind. Der Grund dafür »dürfte doch
wohl darin liegen, daß unsere modernen Gesellschaften in so hohem Grade von
dem stationären Typus abweichen.«[39]
Dieser Satz ist bemerkenswert: Die dominant vertretene neoklassische Theorie
der Wirtschaftswissenschaften ist deshalb
falsch, weil sie einen ganz anderen Gegenstand beschreibt. Doch anstatt
die Theorie zu ändern, wird der vermeintliche Gegenstand festgehalten
und als utopisches Ziel verkündet. Wir finden diesen Gedanken ebenso bei
John Stuart Mill wie bei John Maynard Keynes, um zwei Autoren zu nennen, die in
anderer Hinsicht völlig gegensätzliche Theorieformen vertreten haben.
Keynes
malt den künftigen stationären Zustand farbig aus. Wir werden in dieser Zukunft
(er sagte im Jahr 1930, dies sei in zwei bis drei Generationen der Fall) »zu
einigen der am meisten sicheren und gewissen Prinzipien der Religion und
traditioneller Tugend« zurückkehren.[40]
Wir werden dann wieder, sagt Keynes, die Ziele höher stellen als die Mittel und
das Gute dem Nützlichen vorziehen. Meinte Thünen, der Gedanke an diese edle
Zukunft sei ein Ansporn für gegenwärtige Arbeit (ein moralisches Prinzip, das
im Sozialismus endlos angewandt wurde), so setzt auch Keynes sogleich eine
Warnung hinzu: »Aber gemach! Die Zeit für all dies ist noch nicht reif. Für
wenigstens weitere hundert Jahre müssen wir uns selbst und andere darauf
verpflichten, daß Betrügen fair ist und Fairneß Betrug, denn Betrug ist
nützlich und Fairneß ist es nicht. Gier, Wucher und Sicherheitsstreben
müssen noch für ein wenig länger unsere Götter sein. Nur sie können uns aus dem
Tunnel der ökonomischen Notwendigkeit hinaus ins Tageslicht führen.«[41]
In
diesen ökonomischen Hoffnungsbildern einer Welt erfüllter ökonomischer Wünsche
(die Marx Kommunismus nannte) kulminierte in der Ökonomie die bestimmte
Empfindung, daß die Modelle, die von den klassischen Ökonomen entworfen wurden,
ihrem Gegenstand inadäquat waren. Die Gegenwart offenbart in ihrem »unentwirrbaren
Chaos« eine
ganz andere Zeitlichkeit als die Ewigkeit des mechanischen Gleichgewichts, dem
ein - ich habe diesen Satz Knut Wicksells bereits zitiert - »weder alterndes,
noch je sterbendes Individuum« entspricht. Doch diese Welt hat keinen Ort,
ist also U-topie.
Die
dynamische Wirtschaft zeigt nämlich eine ganz andere Wirklichkeit, eine, die
keinerlei Anstalten macht, auf ein Gleichgewicht zuzusteuern. Vielmehr ist die
kaufmännische Rationalität der unendlichen Geldvermehrung dabei, alle
Lebensbereiche global zu unterjochen und so jene Beschleunigung der Welt
herbeizuführen, die - auch diesen Satz haben wir schon gehört - Theodor Haecker
als Definition des »Herrn der Welt« einführte: »er beschleunigt ihren Gang«.
Diese Beschleunigung des gesamten Lebens ist mit ihrer impliziten Ethik des
Wachstums in einer endlichen Umwelt, in einer Welt mit endlichen
Menschen eine zutiefst destruktive Tendenz. Dies gilt auch und gerade
dann, wenn dieser Prozeß gleichzeitig und vermehrt Reichtümer und Güter für
eine Minderheit der Weltbevölkerung hervorbringt. Die menschliche Zeit ist eine
andere als jene »Ökonomie der Zeit«, die vielfach als Definition des
Ökonomischen überhaupt gilt. Auch vor menschlichen Schranken macht die
Unendlichkeit der Geldlogik keinen Halt: Sie kann nur die Vermehrung eines
abstrakten Quantums als Ziel anerkennen, und für diese Abstraktion sind alle
Besonderheiten nur zu überwindende Hemmnisse. Wenn menschliche Schranken
diesen Prozeß aufhalten, dann steht nicht nur die traditionelle Kultur, sondern
auch der biologische Mensch in seinen Möglichkeiten zur Disposition. Die
technischen Mittel dafür sind geschaffen.
Allerdings
kann ein unendliches Ziel nicht in einer endlichen Umwelt realisiert werden.
Dieser grundlegende Gegensatz, der die Marktwirtschaft von ihrem
Anbeginn jeweils lokal angetrieben hat, ist zu einem globalen
Gegensatz geworden. Das Kapital besitzt keine innere Schranke, wie Marx
und die klassischen Ökonomen (Malthus, Ricardo, Mill) vermuteten, wenn sie auf
das Erreichen eines stationären Zustands hofften. Es gibt für das Ziel der
Kapitalverzinsung keine Grenze; jede erreichte Geldsumme ist zu klein
bezogen auf das Bestreben, sie noch weiter zu vermehren. Mensch und Erde kennen
aber Schranken. Deshalb muß neben diese unendliche Zeit der mechanischen
Kapitalverzinsung, des mechanischen Wachstums eine historische Zeit
treten, die ein Ende kennt. Bei einer unveränderten Rationalität
des Wirtschaftens kann dieses Ende nur durch eine Katastrophe erreicht
werden. Die Menschen können das erkennen und besitzen - wenigstens
prinzipiell - das Potential, diese »apokalyptische Beschleunigung« aufzuhalten,
bevor sie von außen begrenzt wird. Ob dieses Wissen ihr Handeln lenken
wird, daran ist begründet zu zweifeln.
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[1] Thomas von Aquin, Summa Theologica I
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[2] B. Franklin, Guter Rath an einen jungen
Handwerker (1748), Leben und Schriften, zweiter Band, Hamburg-Leipzig-St.
Petersburg o. J., S. 20.
[3]Vgl. z. B. P. Virilio, Der negative
Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München 1989.
[4]Die duale Formulierung »Minimierung des
Mitteleinsatzes für einen gegebenen Zweck« führt formal zu denselben
Ergebnissen.
[5]Vgl. F. Wagner, Das Bild der frühen
Ökonomik, Salzburg-München 1969; I. Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung
und Geschichte der Haushaltsökonomik, Göttingen 1991.
[6]Aristoteles, Oikonomikos 43a, übers. v.
U. Victor, Königstein/Ts. 1983, S. 90.
[7]a.a.O.
44b, S. 100.
[8]Vgl. dazu ausführlich K.-H. Brodbeck,
Erfolgsfaktor Kreativität. Die Zukunft unserer Marktwirtschaft, Darmstadt 1996,
Kapitel 14, besonders S. 201ff.
[9]Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133b
10f.
[10]Aristoteles, Politik 1258b.
[11]M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, Tübingen 19683, S. 394.
[12]Die Zeit ist das »Sein« des Widerspruchs
einer aktualen Unendlichkeit.
[13]Man vergleiche den römischen Rechtssatz: Minor
solvit qui tardius solvit; (wer zu spät leistet, leistet zu wenig).
[14]T. Haecker, Der Christ und die
Geschichte, Leipzig 1935, S. 124. Vgl. J. Pieper, Über das Ende der Zeit,
München 1950, S. 143f.
[15] Aristoteles, Physik IV, 11 und 12, 220a bzw.
221a.
[16]Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133b.
[17]»Geschichtlich ist der menschliche
Rationalismus aus der Wirtschaft erwachsen«.
L. von Mises, Die Wirtschaftsrechnung im
sozialistischen Gemeinwesen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik,
47 (1920/21), S. 100.
[18]Vgl. K.-H. Brodbeck, Die fragwürdigen
Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen
Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, Teil 5; ders., Erfolgsfaktor a.a.O,
Kapitel 9-11.
[19]Zur ganz anderen Auslegung des Denkens in
den asiatischen Traditionen vgl. K.-H. Brodbeck, Der Spiel-Raum der
Leerheit. Buddhismus im Gespräch, Solothurn-Düsseldorf 1995.
[20]T. Hobbes, Vom Körper, Hamburg 1967,
S. 6.
[21]A. Einstein, Grundzüge der
Relativitätstheorie, Braunschweig 19654, S. 2.
[22] A. Smith,
Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1977, S. 318.
[23] A. Smith, Essays on Philosophical Subjects, London 1795,
S. 44; meine Übersetzung.
[24]Vgl. M. Planck, Einführung in die
Allgemeine Mechanik, Leipzig 1920, S. 167f. und S. 172f.
[25]Einstein a.a.O., S. 2.
[26]Durch die Thermodynamik, die
Quantenphysik und die Chaostheorie hat sich in der Physik inzwischen ein
anderer Zeitbegriff herauskristallisiert, den vor allem Ilya Prigogine mit
Nachdruck vertritt.
[27]Ausführliche Belege für die in dieser
Skizze vorgetragenen Gedanken finden sich in Brodbeck, Die fragwürdigen
Grundlagen a.a.O. und ders., Erfolgsfaktor a.a.O., Teil I.
[28]Vgl. K.-H. Brodbeck, Zur Aktualität der
Geldtheorie von David Hume; mit einem Reprint von »On Money« von David Hume;
in: praxis-perspektiven Band 3 (1998), S. 59-65.
[29] Wicksell K. Wicksell, Vorlesungen über
Nationalökonomie, Erster Band, Jena 1913, S. 280.
[30] G. S. Becker, Der ökonomische Ansatz
zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982, S. 9; Beckers Einfügung.
[31]Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit,
Tübingen 197212, § 65.
[32]Der Begriff der »kreativen Reaktion«
wurde von Josef A. Schumpeter eingeführt: The Creative Response in Economic
History, Journal of Economic History 7 (1947), S. 149-159.
[33]Auch ein früheres Ich des Verfassers
hegte einmal, wie einige Ökonomen heute, die Hoffnung, durch die Anwendung
neuer mathematischer Methoden eine qualitative Verbesserung ökonomischer
Modelle erreichen zu können; vgl. K.-H. Brodbeck, Produktion, Arbeitsteilung
und technischer Wandel, Düsseldorf 1981.
[34]Dies wird, wenn auch eher
»augenzwinkernd«, von Wirtschaftswissenschaftlern durchaus zugestanden. So sagt
das frühere Mitglied des deutschen Sachverständigenrates Ernst Helmstädter:
»Zur Warnung vor Fehlentwicklungen eben schon mal eine Fehlprognose!«
Handelsblatt vom 24.1.1995. Die hier unterstellte Souveränität über Wahrheit
oder Falschheit einer Prognose ist freilich schlicht eine Anmaßung - die
Prognosen des Sachverständigenrates sprechen eine andere Sprache: Die eines
politischen Interesses oder des Scheiterns.
[35]Vgl. Brodbeck, Erfolgsfaktor a.a.O., Teil
I.
[36]Eine Formulierung, die gleichlautend aus FAZ,
Süddeutscher Zeitung, Handelsblatt und aus Äußerungen zahlreicherer Politiker
zu entnehmen war und ist.
[37] J. H. von Thünen, Der isolirte Staat, Zweiter
Theil, Berlin 1875, S. 35.
[38] Thünen, Staat aaO.
[39] K. Wicksell, Vorlesungen aaO., S. 285.
[40] J. M.
Keynes, Essays in Persuasion, Collected Writings Vol. IX, S. 330; meine Übersetzung.