Aus: Aargauer Zeitung vom 4. Dezember 1999

Der Markt - was leistet er?

Karl-Heinz Brodbeck

 

Als J.-B. Colbert, Staatsmann im Dienst Ludwig XIV, im Jahre 1680 eine Versammlung von Kaufleuten einberief, schlug ihm der Ruf »Laissez nous faire« entgegen. Dies wurde, ergänzt durch die Forderung nach einer Öffnung der Grenzen, fortan der Schlachtruf des Liberalismus: Laissez faire, laissez passer. Der erste Theoretiker des Laissez faire, René d´Argenson, formulierte zu dieser wie ein Lauffeuer durch die Lehrbücher der Ökonomie jagenden Parole das Programm: »Nichts weiter brauchen Handel und Gewerbe, als dass man ihnen die Hindernisse aus dem Wege räume. Sobald das Schlechte beseitigt, sprießt das Gute von selbst hervor.« Die Ökonomen sind seither bemüht, Modelle für das autonome Funktionieren der Märkte zu entwickeln.

Der Markt gilt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft als jenes Prinzip, das die vielen konkurrierenden Interessen in einem »System der Freiheit« verknüpft, gelenkt von einer invisible hand (Adam Smith). Diese unsichtbare Hand ist das egoistische Gewinnstreben, das alle Marktteilnehmer veranlasst, Leistungen für den Markt zu erbringen, um von ihm - vermittelt durch das Geld und die Preise - entsprechende Gegenleistungen zu erhalten. Der Staat sorgt nach dieser Auffassung nur für den Schutz der Eigentumsrechte und für eine stabile Währung, hält sich aber sonst von Eingriffen in den Marktprozess fern.

Auf die Frage, wie der Marktprozess selbst zu erklären ist, gibt es jedoch keine einhellige Antwort. Klassische Ökonomen sahen im Wettbewerb ein mechanisches Prinzip, das Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringt. Der Markt ist eine Art Computer, der durch die Rechengröße »Preis« die Knappheit der Güter ermittelt. Die neoklassische Theorie lieferte dazu die mathematischen Gleichungen. Viele Wirtschaftswissenschaftler vertraten die Auffassung, dass ein »rationaler Zentralplaner«, mit entsprechenden Daten ausgestattet, dieselben Gütermengen planen würde, die sich auch durch Märkte und Preise ergeben. Dieser These hat F. A. von Hayek heftig widersprochen. Er betont, dass Marktprozesse zwar Knappheiten von Gütern ermitteln, dabei aber subjektive Daten voraussetzen, die einer Planungsbehörde nie zur Verfügung stünden. Marktpreise sind nicht durch staatliche Planung ersetzbar. Der Markt ist für Hayek ein Entdeckungsverfahren. Preise dienen als Signale für Entscheidungen und lenken die Individuen immer dorthin, wo die relativen Knappheiten am höchsten sind. Jeder Eingriff in diesen Prozess führt nur zu Störungen und Fehlern in der Berechnungen von Knappheitsverhältnissen. Wie der frühe Liberalismus fordert deshalb auch Hayeks Neoliberalismus zur »Deregulierung«, zur Beseitigung staatlicher Eingriffe in den Marktprozess auf.

Dieses Modell des Marktes wird von den Anhängern J. A. Schumpeters (dessen Theorie wie die Hayeks aus der »österreichischen Schule der Ökonomie« hervorgegangen ist) kritisiert. Der Markt ist für Schumpeter vor allem der Ort von Innovationen. Neuerungen werden nicht auf dem Markt »entdeckt«, sie sind, nicht zuletzt unterstützt durch die Industriepolitik, das Resultat eines aufwendigen Forschungsprozesses, dessen Ergebnisse »dynamische Unternehmer« gewinnbringend in neue Produkte umsetzen.

Der Unterschied der Marktkonzepte wird bei der Kartellpolitik besonders deutlich: Die neoklassischen Ökonomen bekämpfen Monopole als Fehlfunktion des Marktes und fordern eine strikte Wettbewerbskontrolle. Hayek und seine Anhänger von der Chicago-Schule lehnen dagegen auch beim Wettbewerb jegliche staatliche Intervention als »Anmaßung von Wissen« ab, über das nur der Markt selbst verfüge. Dagegen sieht Schumpeter in den Monopolen nur eine Begleiterscheinung des Innovationsprozesses: Wer zuerst ein neues Produkt anbietet, ist notwendig »Monopolist«. Strittig ist allerdings die Frage, ob große Konzerne Innovationen fördern oder hemmen: einerseits benötigt die Forschung große Kapitalsummen, andererseits hindern Konzerne oft kleine Firmen am Marktzutritt.

Auch die Erklärung der Rolle des Geldes im Marktprozess spaltet die Markttheoretiker. Die klassischen Ökonomen betrachten das Geld als bloßen Tauschvermittler. Jedes Angebot schafft sich eine entsprechende Nachfrage, wenn die richtigen Gleichgewichtspreise gefunden sind. Man bezeichnet diesen Gedanken als »Saysches Gesetz« (nach Jean-Baptiste Say, einem französischen Nationalökonomen des frühen 19. Jahrhunderts). Dieses »Gesetz« beruht auf folgender Überlegung: Wer Güter anbietet und verkauft, der erwirtschaftet dadurch Einkommen (Löhne, Gewinne). Werden diese Einkommen wieder für Güter ausgegeben, so wird dem Wirtschaftskreislauf als Ausgabe zugeführt, was als Einkommen entnommen wurde. J. M. Keynes hat diesem Gedanken widersprochen. Geld ist für ihn nicht nur ein Tauschvermittler, sondern selbst ein Wert, der wie ein Vermögen gehortet werden kann. Sind die Realzinsen sehr niedrig (oder faktisch null wie gegenwärtig in Japan), so verursacht vermehrte Geldhaltung keine Kosten und führt zu einer Nachfragelücke. Das Angebot hat dann zwar Geldeinkommen geschaffen, nicht aber die nötige Güternachfrage in Geld. Eine Rezession ist die Folge. Keynes befürwortete deshalb eine staatliche Konjunkturpolitik zum Schließen der Nachfragelücke. Aber auch in einer »Schumpeter-Ökonomie«, einer innovativen Wirtschaft gilt das Saysche Gesetz nicht: Neue Güter können sich als Flop erweisen. Das Angebot schafft sich dann keine Nachfrage, vielmehr führt die Insolvenz des Anbieters sogar zu einem verstärkten Nachfrageausfall.

Neben diesen konzeptionellen Unterschieden ergeben sich für Einzelmärkte Sonderprobleme. Der Arbeitsmarkt entzieht sich vielfach der einfachen Marktlogik. Weder garantieren niedrige Löhne Vollbeschäftigung, noch sorgt ein freier Wettbewerb um Jobs immer für steigenden Wohlstand. Hayek versprach in den 60er Jahren den Amerikanern steigende Reallöhne, wenn der Arbeitsmarkt dereguliert würde. Ronald Reagen setzte dieses Programm in die Tat um, mit dem genau gegenteiligen Effekt: die Reallöhne sind im Trend gesunken.

Auf den Finanzmärkten sind es vor allem spekulative Prozesse, auf die gegensätzliche wirtschaftspolitische Lösungsansätze zu antworten versuchen. Hier stehen sich Interventionisten wie J. Tobin, der eine Spekulationssteuer und transnationale Kontrollen fordert, und Anhänger des Laissez faire, die Eingriffe in die Finanzmärkte ablehnen, unversöhnlich gegenüber. Vertreter der neoliberalen Chicago-Schule sehen die Ursache für Finanzkrisen in den Kreditgarantien des IWF und fordern dessen Abschaffung.

Ungelöst ist ferner das Problem natürlicher Ressourcen. Sie sind von globaler Bedeutung (Atmosphäre, Weltmeere, Regenwälder usw.), die private oder nationale Nutzung erfolgt aber meist kostenlos und ignoriert die Knappheit dieser Naturgüter. Der Versuch, durch Umweltzertifikate künstliche Märkte zu erzeugen, ist nur für einige Ressourcen erfolgversprechend und bedarf internationaler Rechtsnormen, die bislang nicht in Sicht sind. Hinzu kommt eine ethische Frage: Der Egoismus der Marktteilnehmer wurde von den klassischen Ökonomen deshalb gebilligt, weil die Konkurrenten sich durch den Wettbewerb selbst wechselseitig kontrollieren - besser als dies jede moralische Vorschrift oder ein staatliches Gesetz könnte. Doch der Charme dieses Gedankens verblasst, wenn die Güter der Erde von vielen Generationen genutzt werden. Die künftigen Generationen können die gegenwärtig Lebenden nicht durch Wettbewerb an einer Übernutzung der Rohstoffe, des Bodens oder des Meeres hindern. Die Ungeborenen sind vom Marktprozess heute ebenso ausgeschlossen wie es - aus anderen Gründen - zwei Milliarden Arme weltweit heute bereits sind. Nicht alle erhalten Eintrittskarten für das globale Spiel der Märkte, und der Marktprozess drängt viele an den sozialen Rand.

Grundsätzlich verliert der Gedanke, dass nur der Markt geeignet ist, große arbeitsteilige Wirtschaftseinheiten zu organisieren, im Zeitalter der Megafusionen und der globalen Vernetzung an Überzeugungskraft. Einige transnationalen Konzerne kontrollieren bereits heute Umsätze, die das Sozialprodukt mittelgroßer Länder übersteigen. Der Marktprozess hat hier Strukturen erzeugt, die langfristig seine eigene Funktionsweise außer Kraft zu setzen drohen.


© 1999-2000 Aargauer Zeitung; K.-H. Brodbeck
E-Mail * Homepage