Aus: Ethik-Letter(LayReport) 1/1998 Jahrgang 4, S. 6-9

Fragen von Dr. Norbert Copray an den Volkswirtschaftler, Ingenieur und Philosophen

Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Ökonomie ist Ethik!

Copray: Verspielen Wirtschaft und Politik derzeit die Zukunft unserer Marktwirtschaft?

Brodbeck: »Marktwirtschaft« ist vor allem ein Denksystem, eine Interpretation. Der Untertitel meines Buches »die Zukunft unserer Marktwirtschaft« zielt darauf, was wir als wirtschaftliche Wirklichkeit auslegen. Es geht um unser Bild der Marktwirtschaft. Die Wirtschaft wird nicht von objektiven, von unserem Handeln unabhängigen Gesetzmäßigkeiten reguliert, sie wird ganz wesentlich von dem Bild bestimmt, das wir von ihr haben.

Copray: Wie kommt es dann zu Selbsttäuschungen, zu Irrtümern über das, was Marktwirtschaft ist?

Brodbeck: Marktwirtschaft hat etwas mit Erfolg zu tun. Wer in einer Marktwirtschaft erfolgreich tätig ist, bewegt sich in einer Welt der Interpretation, kommuniziert über seinen Erfolg. Jeder Erfolg hängt ab von dieser Interpretation: Erfolgreiches Kommunizieren ist auch Kommunikation über Erfolg. Deshalb wird von den Gewinnern in der Wirtschaft ein Bild entworfen und getragen, das sich nicht darum kümmern muß, was außerhalb dieses Entwurfsrahmens sonst noch in der Welt geschieht ...

Copray: ... sondern ob das Handeln derjenigen, die dieses Bild entwerfen, dem Bild entsprechend funktioniert.

Brodbeck: Genau das ist es. Insofern würde ich Ihre Eingangsfrage so formulieren: »Verspielen wir aufgrund des heute herrschenden Bildes der Marktwirtschaft unsere Zukunft?« Diese Frage kann ich so nicht beantworten, denn das erforderte eine Prognose. Und von der Wirtschaft behaupte ich gerade, daß Prognosen in ihr unmöglich sind. Man kann aber auf gegenwärtig erkennbare Mängel hinweisen. Lassen Sie mich das kurz skizzieren.
Wenn wir von der Wirtschaft als einem System mit bestimmten Spiel- und Kommunikationsregeln sprechen, dann beruht dieses System auf einer sehr selektiven Weltwahrnehmung. In einer (neo-)liberalen Wirtschaft und Gesellschaft wird über fast alles kommuniziert; das scheint gänzlich unideologisch zu funktionieren. Aber die Ideologie der freien Marktwirtschaft besteht gerade in diesem Glauben, keine Ideologie zu haben. Man läßt prinzipiell alles zu und selektiert nach Erfolg und Mißerfolg, nach nützlich und unnütz. Gerade darin liegt eine falsche und gefährliche Denkweise.

Copray: Ist denn das Nützliche gar nicht unbedingt nützlich und das Unnütze unnütz?

Brodbeck: Die Frage ist, ob wir den Nutzenbegriff tatsächlich als Grundbegriff verwenden sollten. Am Nutzen kann zwar unmittelbar und kurzfristig Erfolg gemessen werden. Aber in der Meßbarkeit des Nutzens durch Geld liegt ein Irrtum. Seit den Tagen der klassischen Wirtschaftswissenschaften hat man immer betont, Ökonomie sei die einzig »harte« Sozialwissenschaft, weil man nur dort auch messen könne. Geld soll dieser Maßstab sein.

Copray: Neuere Ökonomen haben sich sogar bemüht, weiche Faktoren in meßbare Geldgrößen umzurechnen und dafür gab es sogar Nobelpreise.



Brodbeck: Der Versuch, alles in Geldgrößen auszudrücken, beruht auf der Annahme, daß sich in den Preisen objektive Tatbestände widerspiegeln, wie in den Meßdaten der Physik. So behauptet die traditionelle Theorie, die Güterknappheit sei in den Preisen weitgehend korrekt enthalten. Und genau das ist nicht richtig.

Copray: Geht es denn nicht um Knappheit in der Wirtschaft?

Brodbeck: Doch, es geht um Knappheit. Aber die Preise drücken nicht eine Knappheit relativ zu den Interessen aller aus. Die Interessen der nachfolgenden Generationen oder die Interessen anderer Lebewesen und der umgebenden Natur können nicht im Preis erscheinen. Die Natur nimmt am Marktspiel ja gar nicht teil, und es nehmen all jene nicht teil, die keine Eintrittskarte zum freien Markt besitzen: Geld bzw. eine verkäufliche Ware oder Arbeitsqualifikation. Deshalb kann ein Preis nur das messen, was innerhalb des Systems wirkt und sich nach dessen Regeln verhält. Deshalb sind die Marktpreise langfristig und mit Blick auf all jene, die am Marktspiel nicht teilnehmen können oder dürfen, kein richtiger Indikator.

Copray: Gibt es eine Alternative, die Knappheit anders als durch den Preis zu erfassen?

Brodbeck: Die gibt es, aber sie ist nicht einfach objektivierbar. Man muß aus der ökonomischen Theorie erst die Illusion beseitigen, daß Preise eine objektive Wahrheit ausdrücken, etwa die »ökologische Wahrheit« - eine Formulierung von Ernst-Ulrich von Weizsäcker. Die Frage lautet: Können das Preise überhaupt? Ich bestreite das, denn in jedem Preis sind Voraussetzungen enthalten, die nicht thematisiert werden: Die vererbte Einkommensverteilung, die durch unsere Nutzung festgelegte Entscheidung darüber, wieviel Ressourcen wir an unsere Enkelkinder weitergeben, wie wir uns zu Randgruppen und kulturellen Strukturen außerhalb des Marktes verhalten - und das global in einem globalen Preissystem.

Copray: Ist die Diskussion über den Benzinpreis von vier, fünf Mark unsinnig?

Brodbeck: Ich sage nicht, daß diese Diskussion von vornherein falsch ist. Man muß nur wissen, worüber man diskutiert. Es geht hier darum, wie wir über verschiedene Generationen hinweg die erschöpfbaren Ressourcen verteilen wollen. Das ist eine ethische Frage: Wie wichtig sind für uns unsere Enkelkinder? Was wollen wir den nachfolgenden Generationen an kulturellen, sozialen und natürlichen Gütern hinterlassen? Solche Fragen können nicht am Maßstab objektiver Wahrheit gemessen werden.

Copray: Sie wollen also die Grenzen der ökonomischen Theorie sowie dasjenige, was von ihr nicht erfaßt werden kann, aufzeigen?

Brodbeck: Und deshalb halte ich einen Theorietypus nach dem Vorbild der Naturwissenschaften in der Ökonomie für den eigentlichen Irrtum. Ökonomie wird dadurch zu einer mechanischen Theorie. Ordnung und Freiheit in der sozialen Welt lassen sich nicht als mechanischer Gegenstand beschreiben. Aber genau so wird von der herkömmlichen Theorie die Gesellschaft beschreiben, seit Adam Smith, der sagte: »Wir blicken bewundernd auf die Räder der Staatsmaschine«, dieses »schöne und großartige System«. Wir haben das Bild von den Rädern inzwischen durch Gleichungen ersetzt, auch räumen wir den Rädern einen gewissen Spielraum ein - das ist es faktisch, was die Theorie der Unsicherheit leistet -, doch an den Grundannahmen, am mechanischen Bild hat sich nichts geändert.

Copray: Innerhalb dieses Modells gilt die Überzeugung, daß die freie Konkurrenz der Individuen, ihr freies Spiel auf dem markt gewissermaßen, aus sich heraus zur sozialen Ordnung führe.

Brodbeck: Das behauptet die herkömmliche Theorie. Sie kann aber nur zu diesem Ergebnis kommen, wenn die menschliche Freiheit preisgegeben und durch ein Kalkül ersetzt wird. Entscheidungen seien, sagen die Neoklassiker, durch Nutzenmaximierung determiniert. Freiheit ist aber das Gegenteil von Determination, ist nicht durch durch Naturgesetze zu begreifen. Diese Form ökonomischer Theorie reduziert faktisch alles Handeln auf ein kaufmännisches Kalkül. Die endlose Vermehrung von Geld ist zwar ein mögliches Handlungsprogramm, aber sicher nicht das einzige. Wir sind jedoch in der Neuzeit dazu übergegangen, alles am Maßstab dieses Handlungsprogramms zu messen. Das kaufmännische Handlungsprogramm hat alle anderen Handlungen überlagert.

Copray: Warum führt denn freie Konkurrenz der am Markt agierenden Individuen nicht aus sich heraus zu einer sozialen Ordnung?

Brodbeck: Heute glaubt die Öffentlichkeit vielfach an dieses klassische Dogma. Die Klassiker der Ökonomie gingen noch davon aus, daß dieses Credo dem gesunden Menschenverstand kaum einleuchten würde. Die Geburt der Nationalökonomie als Wissenschaft ist der Versuch, dieses klassische Dogma gegen den gesunden Menschenverstand zu beweisen.
Aber sehen wir uns diesen Beweis in der heute gelehrten Mainstream-Ökonomie einmal näher an. Eine der wesentlichen Annahmen beruht auf der Überzeugung, die Ausdehnung der Produktion innerhalb einer Firma werde durch interne Faktoren gehemmt - man spricht vom Prinzip steigender Grenzkosten. Nur so gibt es ein Gleichgewicht in dieser Theorie, damit einen »Beweis« für das klassische Dogma. Aber kaum eine empirische Untersuchung kann diese These stützen; jeder Unternehmer würde die Vorstellung, er sei durch technische Faktoren prinzipiell an einer lohnenden Ausweitung der Produktion gehindert, für albern erklären. Schließlich braucht man nur eine weitere Betriebsstätte zu errichten.
Ein weiterer wesentlicher Mangel ist das Fehlen der Analyse von Neuerungen in dieser Theorie. Sie kann Neuerungen nur als exogene Störung betrachten. In der Wachstumstheorie sprach man von »manna from heaven«, wenn die Rede von technischem Fortschritt war. Die Wachstumstheorie kam auch zu dem Ergebnis, daß die Wachstumsrate des Sozialprodukts ausschließlich durch exogene Faktoren bestimmt sei. Seit dem Ende der 80er Jahre werden hier allerdings Zweifel laut, und man beginnt die Bedeutung endogener Faktoren zu erkennen. Das System der neoklassischen Ökonomie beruht auf vielen simplifizierenden und von keiner Empirie bestätigten Annahmen, und sie führt, konsequent analysiert, zu zahlreichen inneren Widersprüchen. Jeder gut ausgebildete Ökonom kennt heute mehr Ausnahmen als Regeln.
Ein weiter Punkt. Die mathematischen Mittel, die in der Ökonomie zur Analyse immer noch verwendet werden, entsprechen dem Stand der Jahrhundertwende. Damals kannte man in der Physik vorwiegend Gleichgewichtssysteme. Heute wissen wir mehr durch die Kenntnis nichtlinearer Modelle, der Chaostheorie und der Computersimulation. Ich weiß um die Grenzen dieser neuen Methoden, doch ich experimentiere auch mit solchen Computermodellen. Als einfaches Ergebnis kann man festhalten, daß komplexe Systeme der Wirtschaft - selbst unter sehr vereinfachten Annahmen - nicht Gleichgewichten zustreben. Unterschiedliche Simulationen zeigen vielmehr eine wachsende Divergenz der Einkommen, periodische Schwankungen, langfristige Instabilität usw. Die Simplifikationen der mechanischen Wirtschaftsmodelle können durch ein wenig Kenntnis in neuerer Systemtheorie widerlegt werden.
Ich möchte aber einen Schritt weitergehen. Selbst wenn man Wirtschaftsmodelle mit besseren mathematischen Methoden untersucht, verfehlt man den Kern dessen, was Ökonomie ausmacht. Freiheit und Kreativität sind in aller Munde, kommen aber in der Theorie fast gar nicht vor. Man spricht statt dessen von exogenen Einflüssen aus dem »Datenkranz«. Das Herzstück des Wirtschaftsprozesses - ein zufälliger äußerer Einfluß? Gewiß, es gibt Versuche, den andauernden Prozeß von kreativen Veränderungen zu beschreiben. Doch diese Modelle stecken noch in den Kinderschuhen und spielen in der wirtschaftspolitischen Beratung kaum eine Rolle.

Copray: Ist nicht die Idee der sozialen Marktwirtschaft, des ›rheinischen‹ Kapitalismus ein vielversprechender Weg, außerökonomische, soziale Faktoren ausdrücklich in eine ökonomische Theorie und Praxis einzubeziehen und stark zu machen?

Brodbeck: Der klassische Liberalismus beruht auf der Annahme, daß es in der Wirtschaft so etwas wie Naturgesetze geben soll - die »unsichtbare Hand« bei Adam Smith, »natürliche Arbeitslosigkeit« und »natürlicher Zinssatz« bei Milton Friedman. Wirtschaft sei wie die Natur, durch Gesetze geordnet. Das ist ein doppelter Irrtum, denn erstens hat sich inzwischen unser Bild der Natur gründlich geändert. Wir gehen nicht mehr davon aus, daß »Natur« etwas in sich völlig Geordnetes ist. Zweitens ist es charakteristisch für marktwirtschaftliches Denken, keine Grenzen zu akzeptieren. Die Kaufleute versuchen jede Grenze zu überschreiten, um ihren Geldbesitz zu vermehren.

Copray: Die ganze Welt in Ware verwandeln!

Brodbeck: Nicht die ganze Welt, nur das, was sich erfolgreich verwerten läßt. Da zieht die kaufmännische Logik ihre Grenze. Dabei ist die Wirtschaft auf exogene Ressourcen wie Wissenschaft, Tradition, Kultur, Bildung und Natur als Quellen für kreative Veränderungen angewiesen. Diese Quellen sind vorausgesetzt, sie werden nicht durch den Wettbewerb erzeugt. Ich widerspreche der These Hayeks, der Wettbewerb sei ein Entdeckungsverfahren, eine Art Erfindungsmaschine. Das ist eine naive Vorstellung, als würden Unternehmer auf Märkten entlang schlendern und zufällig den CD-Player oder die Laser-Technologie entdecken.

Copray: Nun werden gerade exogene Faktoren wie Bildung und Bildungswesen in den Markt gedrückt in der Annahme, der Wettbewerb der Universitäten würde die Qualität der Bildung steigern.

Brodbeck: Darin sehe ich eine große Illusion. Der Wettbewerb ist nicht schöpferisch, der Wettbewerb ist ein Selektionsprozeß. Auf dem Markt wird unter Alternativen ausgewählt, aber der Wettbewerb bringt nicht kausal Neues hervor. Er kann nur Anregungen für etwas geben, das außerhalb des Marktprozesses entsteht.

Copray: Was oftmals nicht zum optimalen Produkt, sondern zum suboptimalen Produkt führt, weil man damit genug Geld verdienen kann.

Brodbeck: Richtig! Oftmals werden optimale Ergebnisse sogar verhindert. Beispiel: Die Software von Microsoft wurde schon zehn Jahre früher von Appel besser realisiert, nur war die Marketingstrategie der kleinen Firma nicht so ausgebufft. Jetzt hinkt die Entwicklung um zehn Jahre hinterher. Auch bei Videorecordern hat sich das VHS-System gegen das bessere Beta-System durchgesetzt, aufgrund reiner Marketingfaktoren.
Wenn wir von der sozialen Marktwirtschaft als einem möglicherweise realistischeren Bild der Wirtschaft sprechen, sofern Rahmenbedingungen und exogene Faktoren dort stärker berücksichtigt werden, so dürfen wir auch nicht vergessen, daß der Erfolg dieses Wirtschaftssystems sich sehr stark dem Systemkrieg zwischen Ost und West verdankte. Angesichts des Kommunismus waren soziale Zugeständnisse unabdingbar. Man konnte es sich nicht leisten, große Menschenmassen in die Arbeitslosigkeit oder ins ökonomische Abseits zu verstoßen. Sie wären sonst vielleicht für die kommunistische Ideologie funktionalisiert worden. Dieser Grund ist heute entfallen, und deshalb wird heute Arbeitslosigkeit in Europa so leicht »toleriert«, begleitet von allerlei Lippenbekenntnissen. Was in vielen Jahren durch Steuermittel aufgebaut wurde (Post, Bahn, Lufthansa, Rundfunk etc.) wird unter dem Schlagwort der »Deregulierung« an Private verschleudert, die dann sicherlich »kostengünstiger« produzieren können - grundlegende Investitionen wurden ja öffentlich getätigt.

Copray: Ein anderes, negatives Argument für die soziale Marktwirtschaft ist der Egoismus, der durch den Wettbewerb in einen Beitrag für das Allgemeinwohl verwandelt werde.

Brodbeck: Bei Immanuel Kant habe ich diesen Standpunkt am klarsten gefunden. Er schreibt: »Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ›Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten«. Kant meint also, wichtig sei nicht die Moral der Staatsbürger, denn es könnten auch Teufel sein, sondern daß die Staatsbürger Verstand besäßen. Dadurch, daß die Teufel miteinander konkurrieren, entstehen im Widerstreit der egoistischen Interessen wechselseitig Schranken, die so etwas wie eine moralische Ordnung hervorbringen. Ist diese Logik zu halten? Ich glaube nicht, denn es wird bei diesem Argument unterstellt, daß die Teufel oder die Egoisten gleich stark seien. Dem widerspricht aber jede Erfahrung. Man kann nicht von gleichen Startbedingungen sprechen. Wie soll aber eine »moralische« Ordnung entstehen, wenn die Startbedingungen »unmoralisch« sind? Jedem Marktprozeß geht vielmehr schon eine »Moral« voraus; sie steckt in den Rahmenbedingungen, in denen die Märkte agieren. Der Teufel steckt schon im »Datenkranz«.
Sogar in der neoklassischen Theorie ergibt sich ein völlig anderes Preisgefüge, wenn die Anfangsbestände an Gütern und Ressourcen anders verteilt werden. Aber über diese Verteilung wird nicht gesprochen; man betrachtet sie als »naturgegeben«. Darin verbirgt sich aber eine verschwiegene Ethik. In den Preisen versteckt sich Moral. Deshalb wird ethisches Verhalten auch nicht durch den Markt erst erzeugt - wie Kant meinte. Das ist ein erster fundamentaler Denkfehler. Ein zweiter Fehler steckt in der These, divergierende Einzelinteressen würden im Wettbewerb zu einem für das Gemeinwohl positiven Gesamtinteresse geführt. »Allgemeininteresse« ist ein Leerbegriff. Wer definiert ihn? Geht es hier um das Interesse eines Nationalstaates? In einer Wirtschaft mit globalem Wettbewerb ist das eine absurde These. Ist es das Interesse aller Menschen dieser Erde? Kann man behaupten, es werde aktuell durch den Wettbewerb in der Weltwirtschaft gefördert? Während wir hier miteinander sprechen, verhungern allein dreitausend Kinder weltweit. Es wäre doch zynisch zu sagen, dieses Wettbewerbssystem sei im Interesse aller. Ferner tauchen, wie bereits erwähnt, die Interessen der künftigen Generationen im Allgemeinwohl gar nicht auf.

Copray: Sie sprechen im Zusammenhang mit Ökonomie ganz selbstverständlich von Ethik, während andere das Verhältnis von Ökonomie Ethik wie von Feuer und Wasser sehen. Ist es überhaupt zu rechtfertigen, angesichts der Wirtschaft von Ethik zu sprechen?

Brodbeck: Ökonomie ist Ethik - Ethik hier in einem sehr allgemeinen Sinn verstanden. Auch der Egoismus ist eine ethische Haltung, obgleich im alltäglichen Sprachgebrauch ethisches Verhalten vielfach mit Altruismus gleichgesetzt wird. Ökonomie als Wissenschaft ist eine moral science, ist eine Moralwissenschaft. Adam Smith hatte einen Lehrstuhl für moral science inne. Schon der Begriff Ökonomie - oikos und nomos - bedeutet: »Einzelwirtschaft im Rahmen von Gesetzen«. Ich schätze Aristoteles sehr; er hat bereits verflochtene Tauschbeziehungen untersucht und deren zirkuläre Vernetzung entdeckt, auch wesentliche Elemente einer Geldtheorie. Aristoteles hat all dies aber stets als Teilstruktur in einem Rechts-, Sozial- und Normensystem betrachtet. Ökonomie braucht nicht eine externe Ethik: Ökonomie (als Theorie und Praxis) ist Ethik. »Sachzwänge« sind Teil jenes Scheins, von dem wir eingangs sprachen. Wenn man sich aus Wettbewerbsgründen gezwungen sieht, die Kosten zu senken und Entlassungen vorzunehmen, dann wird eigenes und fremdes Handeln begrenzt. Das ist eine implizite Ethik, denn Ethik heißt, das Handeln zu begrenzen oder Freiräume für das Handeln festzulegen. Wenn man hier von »objektiven Wirtschaftsgesetzen« spricht, dann erliegt man jener Täuschung, auf die ich am Anfang hingewiesen hatte. Es ist die implizite Ethik der Wirtschaft, die das Handeln lenkt und Fakten schafft. Handlungsregeln kann man verändern, Naturgesetze nicht.






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Stand: 29. August 2000