Aus: Ethik-Letter 4/2001, S.  2-5

 

Zur Ethik der Intelligenz

 

Karl-Heinz Brodbeck

 

Die Wissenschaften sind in die Kritik geraten, allen voran die Genforschung, wie zuvor schon die Atomtechnik und die Chemie nach Großkatastrophen wie in Tschernobyl oder in Bophal (Indien). Trotz lauter Bekundungen eines Fortschritts bleiben Krebs, Aids oder weltweiter Hunger weiter unbesiegt, und selbst in der Nahrungsmittelproduktion der Länder des Nordens erweist sich die Wissenschaft oft als Erfüllungsgehilfe zweifelhafter Praktiken. Wissenschaftler wehren sich gegen solche Vorwürfe, beharren auf der Freiheit der Forschung und lassen schon einmal durch Analogien den Verdacht laut werden, hier zeige sich erneut der Ungeist deutscher Vergangenheit, der gegen Intellektuelle zu Felde ziehe. Am Beginn des vorigen Jahrhunderts war „die Intelligenz“ tatsächlich ein Schimpfwort, nicht selten gepaart mit dem Adjektiv „jüdisch“. Ist die Wissenschaftskritik der Gegenwart also nur eine verkappte, rückwärtsgewandte Ideologie im Mantel der „Ethik“?

Ich möchte zur Klärung dieser Frage eine philosophische Tugend pflegen und eine Etage tiefer, bei den verwendeten Begriffen, ansetzen, um einige grundlegende Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen. Wissenschaft ist offenbar auf herausragende Weise eine Form von intelligentem Handeln. Jedes Handeln bewegt sich aber, gewollt oder ungewollt, in einem ethischen Rahmen. Wie also verhält sich „Intelligenz“ zu ethischen Fragen? Gibt es hier womöglich eine innere Verwandtschaft, so daß bereits dem Begriff der Intelligenz ein ethischer Kern innewohnt, der nur vergessen wurde?

Ich möchte diese Frage durch eine Seitenlinie erläutern. Intelligenz galt traditionell fraglos als eine menschliche Eigenschaft. Kannte die Theologie noch andere „Intelligenzen“ wie Engel, so wird in der philosophischen Tradition Intelligenz fast ausschließlich den Menschen zugebilligt. Der Mensch ist das „intelligente Lebewesen“. Man setzte „Intelligenz“ meist mit „Geistes- oder Verstandestätigkeit“ gleich. Die Darwinsche Evolutionstheorie brachte hier eine erste Erschütterung: Wenn die Menschen nur ein Teil eines Lebenskontinuums sind, dann kann auch die Intelligenz kaum erst durch den Menschen entstanden sein. Auch Tiere haben ihre Art der Intelligenz. Die Entwicklung der Computertechnik hat diese Frage weiter radikalisiert: Kann man Maschinen bauen, die eine künstliche Intelligenz besitzen?

Alan Turing, dessen Modell der Rechenmaschine die KI-Forschung für viele Jahrzehnte bestimmt hat, ging im Jahre 1950 davon aus, daß es um die Jahrtausendwende denkende Maschinen geben wird, deren Intelligenz sich nicht mehr von jener des Menschen unterscheidet. Er formulierte hierzu einen Test, den „Turing-Test“. Eine Maschine soll „intelligent“ heißen, wenn man im Dialog nicht mehr unterscheiden kann, ob man mit einer Maschine oder einem anderen Menschen spricht. Über diesen Test sind viele tausend Seiten geschrieben worden. Es gibt Programmwettbewerbe und zahllose Projekte. Eines der ersten Programme - ELIZA - ist inzwischen auch im Internet verfügbar. Es wurde 1964 von Joseph Weizenbaum am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt, der heute als einer der schärfsten Kritiker der Computereuphorie gilt.

Was hat ein Programm wie ELIZA mit Ethik zu tun? Dieses Programm simuliert einen Psychotherapeuten. Fragt man dieses Programm: „Are you a machine?“, so erhält man Antworten wie: „Would you prefer if I were a machine?“ oder „Perhaps in your fantasies I am a ma­chine“. Man bemerkt rasch, daß ELIZA nur ein Programm ist. Es besteht den Turing-Test nicht. Doch nehmen wir an, eine Maschine würde auf viele Frage sehr kluge Antworten geben. Irgendwann werden wir fragen: „Bist du nun tatsächlich ein Computer oder ein Mensch?“ Antwortet nun solch eine Maschine wahrheitsgemäß, so ist sie am Turing-Test gescheitert. Um den Test passieren zu können, müßte der Programmierer oder Erbauer des Roboters die Fähigkeit zur Lüge implementieren. Wenn Wahrhaftigkeit aber unabdingbar zur Ethik gehört, dann kann nur eine nicht ethisch organisierte künstliche Intelligenz den Turing-Test bestehen.

Dieser „Ethik-Test“ zeigt mit einem Schlaglicht, daß der Begriff der Intelligenz nicht von ethischen Implikationen befreit werden kann. Offenbar haftet dem Intelligenzbegriff etwas an, das ihn zuinnerst mit ethischen Fragen verbindet. Es ist nicht ganz einfach, diesen Kern herauszuarbeiten. Ich möchte es über einen zweiten Umweg versuchen.

Es ist eine alte Streitfrage, ob Intelligenz „angeboren“ oder „erworben“ sei. Meist erhält man von Psychologen ein „sowohl als auch“ zur Antwort. Doch diese Antwort ist unbefriedigend. Betrachten wir eine sehr einfache Methode zur Messung des Intelligenzquotienten: Man dividiert das Intelligenzalter durch das Lebensalter. Wenn z. B. ein Kind mit vier Jahren bereits das Lesen beherrscht und man davon ausgeht, daß diese Fähigkeit erst im Alter von sieben Jahren erworben wird, dann entspräche dies einem IQ von 175. Was sollen wir mit solch einer Zahl anfangen? Offenbar muß sich die Intelligenz zeigen, und sie zeigt sich nur an einem bestimmten Verhalten. Jedes Verhalten ist aber in eine Umwelt eingebettet, die sich verändert und laufend neu zu interpretieren ist. Mit der Kenntnis des IQ läßt sich kein bestimmtes Verhalten in neuen Situationen vorhersagen. Intelligenz ist offenbar kein „Sein“, sondern etwas Dynamisches. Und diese Dynamik entfaltet sich nicht einseitig, sondern immer in Beziehung zu einer Umgebung, einem Umfeld.

Das zeigt auch ein erneuter Blick auf die Maschinen-Intelligenz. Die KI-Forschung hat in den letzten Jahren einen radikalen Paradigmen-Wechsel erlebt. Angestoßen wurde diese Entwicklung durch Rodney A. Brooks vom Artificial Intelligence Laboratory am MIT. Die traditionelle KI-Forschung versuchte, die Umgebung, die „Welt“ im Programm zu repräsentieren. Aus dieser Repräsentation der Welt versuchte man bestimmte Verhaltenssteuerungen zu entwickeln. Doch das funktioniert nur bei sehr einfachen, „sterilen“ Umgebungen mit wenigen, klar definierten Möglichkeiten (wie die Montagehandgriffe bei einer Fertigungsstraße in der Automobilindustrie).

Brooks geht einen radikal anderen Weg. „Die Welt selbst ist ihr bestes Modell“, meint Brooks und sagt, daß Intelligenz immer verkörpert ist, daß Programm und Maschine nicht getrennt werden können. Eine frei schwebende Intelligenz ist ein Leerbegriff. Die herkömmliche KI-Forschung ist cartesianisch geblieben, denn sie trennt strikt zwischen Geist und Körper, Programm und Maschine. Doch diese Konzeption offenbarte rasch Grenzen bei der Entwicklung intelligenter Maschinen. Brooks und sein Team bauen Roboter, die über vielfältige Sensorsysteme direkt an der „Welt“ lernen und eine Fülle erfolgreicher Strategien des Verhaltens speichern, ohne die Welt in einem Meta-Modell zu repräsentieren. Die in einem solchen Roboter „verkörperte“ Erfahrung ist so wenig als Programm übertragbar wie die menschliche Erfahrung, die sich in der Struktur der Synapsen des Gehirns einprägt. Die Anwendung dieser neuen Methode hat tatsächlich bereits eine Vielzahl sehr eleganter Maschinen hervorgebracht, die erstaunliche Fertigkeiten besitzen. Brooks behauptet nicht, daß man damit die mensch­liche Intelligenz reproduzieren könne. Doch er sagt zurecht, daß aus der KI-Forschung eine wichtige Erkenntnis gewonnen werden kann: Intelligenz gibt es nur als verkörpertes Verhalten.

Wenn man Intelligenz nicht vom (verkörperten) Verhalten trennen kann, dann kann es auch keinen eindeutigen Intelligenzbegriff geben. Auf ganz anderem Wege hat sich diese Einsicht auch in der Psychologie durchgesetzt, seitdem Modelle multipler Intelligenz populär wurden. Die „emotionale Intelligenz“ ist eines von vielen Beispielen hierfür. Intelligentes Verhalten kann man nur situativ zu beurteilen. Man kann nicht von einer abstrakten Eigenschaft „Intelligenz“ sprechen (auch wenn einige Psychologen immer noch an einen ererbten „Generalfaktor“ glauben, den sie auch messen wollen). Ich möchte sicher nicht in Zweifel ziehen, daß es individuelle Unterschiede der Begabung gibt; das zu behaupten wäre unsinnig. Wichtig ist eine ganz andere Einsicht: Intelligenz entfaltet sich nur in einem Umfeld, in einer Umgebung, und ohne diesen Bezug auf ein Umfeld kann gar nicht sinnvoll von einem Inhalt des Begriffs „Intelligenz“ gesprochen werden.

Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt hinweisen, den Hilary Putnam, einer der führenden Köpfe der US-amerikanischen Wissenschaftstheorie, betont hat. Wenn man Intelligenz als eine Fähigkeit bezeichnet, so ist dies nicht nur die Fähigkeit, Handlungen hervorzubringen. Handlungen (im Unterschied vom bloßen Verhalten) sind immer auch bewußt, setzen also Wissen voraus. Intelligentes Verhalten - wenigstens der Menschen - beruht auf Wissen und bringt seinerseits neues Wissen hervor. Anders als Brooks Roboter verkörpern Menschen nicht nur Intelligenz in ihrem Verhalten, sie sind tatsächlich fähig, ihre Umwelt durch Wissen zu repräsentieren.

Das „Wissen“ ist aber ein sozialer Prozeß. Putnam drückt diese Einsicht so aus: Die Bedeutung von Wörtern und Begriffen beruht auf einer Arbeitsteilung. Wir vertrauen unentwegt auf das Wissen anderer und tragen mit unserem Wissen produktiv zu Handlungen anderer bei. Die Arbeitsteilung ist nicht nur eine der Hände, sondern auch eine Arbeitsteilung der Köpfe. „Wissen“ existiert nur als differenzierter, sozialer Prozeß. Auch die Intelligenz ist deshalb stets nur ein Moment in einem reichlich komplexen System gesellschaftlich vernetzter Handlungen. Der Chemiker vertraut der Intelligenz des Kochs, dessen Speise er verzehrt, wie der Koch wiederum dem Chemiker vertraut, wenn er industriell erzeugte Lebensmittel verwendet. Wir vertrauen als Menschen unentwegt auf das Wissen anderer.

Das zeigt sich schon an der Form des Wissens. Intelligente Operationen vollziehen sich beim Menschen als Denkprozesse, und das Denken gilt zurecht auch als „inneres Sprechen“. Wer denkt, der fokussiert und privatisiert in sich etwas Soziales. Die Sprache als wichtigster Träger des intelligenten Verhaltens beruht auf einem sozialen Prozeß. Eine künstliche Sprache ist nur übersetzt aus einer „natürlichen“ Sprache und setzt diese voraus. Denken und Handeln beruhen auf einer Privation sozialer Strukturen. Deshalb - dies nebenbei bemerkt - wird man das Bewußtsein auch niemals als Eigenschaft eines individuellen Gehirns entdecken. Der Geist steckt nicht im Neuron oder einer Neuronengruppe. „Geist“ ist ein sozialer Kommunikations- und Handlungsprozeß, an dem wir durch unser Denken und Sprechen von der Kindheit an teilnehmen. Wissen und Intelligenz sind ein globales Konzert der vielen Gehirne, gespielt auf sechs Milliarden Instrumenten. Niemand kann sich davon verabschieden, jeder ist auf andere angewiesen. Schon wer „Ich“ sagt, spricht bereits die Sprache des  „Wir“.

Ich kehre nach diesen Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und Intelligenz zurück. Wenn Intelligenz immer verkörpert ist und sich als nur situatives Verhalten entfaltet, wenn ferner die Bausteine des intelligenten Verhaltens allein schon durch die Sprache ihre soziale Natur offenbaren, dann beantwortet sich die Frage, ob es so etwas wie einen „ethischen Kern“ der Intelligenz gibt, fast von selbst. Ethik ist eine Denkform, an der sich Handlungen orientieren; sie ist ein Maß des Handelns. Eigentlich drücken ethische Regeln aus, daß wir in unserem Handeln eingebettet bleiben in eine Natur und eine Gesellschaft, die uns überhaupt erst jene „Bausteine“ liefern, aus denen wir unser bewußtes Ich, unsere Ideen, unsere Ziele aufbauen. Dies geschieht jeweils mit unterschiedlichem Geschick und individueller Begabung; doch niemand ist nur aus sich intelligent. Intelligenz ist ein sozialer Prozeß.

Halten wir also fest: Wer sprechen kann, besitzt die Fähigkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu geben. Und intelligentes Verhalten ist vor allem diese kreative Fähigkeit, auf Fragen Antworten finden zu können. Wer auf eine Frage antwortet, bewegt sich in der Sprache und akzeptiert damit implizit, daß er Teil einer Sprachgemeinschaft, einer sozialen Vernetzung ist. Das ist im ganz wörtlichen Sinn die Ver‑Antwortu­ng des Denkens, der Intelligenz. Die Wissenschaft als die herausragende Betätigung intelligenten Verhaltens ist deshalb auch auf herausragende Weise „verantwortlich“ für ihr Tun. „Freiheit der Forschung“ kann nie heißen, daß die Intelligenz sich aus ihrer sozialen Einbettung verabschieden kann. Jede Wissenschaft kehrt in ihren Produkten in die Gesellschaft zurück. Auch wer als Forscher nur nach Anerkennung strebt, drückt unmittelbar die Sehnsucht aus, in der Gesellschaft, im öffentlichen Bewußtsein ein geachteter Teil sein zu wol­len. Wer von der Gesellschaft die (moralische oder finanzielle) Anerkennung für seine intellektuellen Leistungen einfordert, der gibt zu, daß er von etwas abhängig ist, das er zugleich in der „Freiheit der Forschung“ negieren möchte.

Die Moderne ist allerdings ganz allgemein durch einen ethischen Geburtsfehler charakterisiert. Es handelt sich um einen höchst produktiven Fehler, einen Irrtum, der sich als dynamische Kraft erwiesen hat. Dieser Geburtsfehler zeigt sich in einer bestimmten Denkform: In der Mechanik. Mechanisches Denken geht davon aus, daß sich Systeme jeder Art aus Atomen, aus isolierbaren Einzelteilen zusammensetzten. Dieses mechanische Denken harmoniert auf nahezu vollkommene Weise mit den Interessen der wirtschaftlichen Weltbeherrschung. Wie das mechanische Denken die Welt in Atome und ihre Bewegungen aufteilt, so trennt die Ökonomie praktisch die Menschen in Eigentümer-Atome, die egoistisch ihren Gewinn maximieren. Im Privateigentum liegt eine gewaltige Produktivkraft. Es spornt, verbunden mit egoistischem Gewinnstreben, Neuerungen an und scheint die Intelligenz vielfältig zu beflügeln. Wer hat, dem wird gegeben.

Dieses ökonomische Prinzip beherrscht mehr und mehr auch die Forschung. Vor diesem Hintergrund wird auch die eigentlich reichlich seltsame Frage nach einem Maß für die Intelligenz in einer Zahl (IQ) verständlich: Menschen sollen bezüglich ihrer Brauchbarkeit zur Erzielung von Gewinn berechenbar sein (künftig vielleicht ergänzt durch genetisch erkennbare Ausfallrisiken). Als „intelligent“ gilt, wer ein profitables Verhalten entfalten kann. Auch die staatliche Garantie der privaten Nutzung von Forschungsergebnissen stellt das sicher: Intelligentes Verhalten zahlt sich aus. Und das in wachsendem Umfang.

Der gewaltige Fortschrittsmotor der Moderne - das auf privater Aneignung beruhende Gewinn- und Erfolgsstreben - brachte eine Vielzahl von intelligenten Prozessen und ihre Verkörperung in unzähligen Produkten hervor. Er hat die kreative Intelligenz in eine atemlose Dynamik getrieben. Die privat abgegrenzte und dem Wettbewerb ausgelieferte Intelligenz, geködert mit dem großen Versprechen, die Früchte ihres Tuns profitabel nutzen zu können, besitzt aber einen blinden Fleck, der sich beständig zu vergrößern droht, eine Art „ethisches Ozonloch“ der Wissenschaften.

Dieser blinde Fleck beruht auf dem Vergessen dessen, was Intelligenz ist. Intelligenz ist in ihrer innersten Natur ein soziales Verhalten. Der Genetiker, der „in freier, forschender Neugier“ an Stammzellen oder anderen Stückchen Leben herumhantiert, getrieben vom Ehrgeiz und der Hoffnung auf reichliche Entlohnung seiner Entdeckungen, denkt in einer Sprache, die er nicht gemacht hat, verwendet Geräte, die andere erdacht und gebaut haben, setzt Gedanken und Theorien voraus, die vor ihm in anderen Köpfen zur Reife kamen und lebt ein Leben, das völlig von der menschlichen Gesellschaft und der Natur getragen wird. In seinem theoretischen Tun grenzt er sich dagegen ab und handelt, als wäre er ein isoliertes Wesen, getrieben von einer Fiktion namens „Freiheit der Forschung“, und ist doch gänzlich abhängig von der (auch finanziellen) Anerkennung seiner Arbeit.

Die Aufspaltung der sozialen Vernetzung in Privatsphären, geschützt durch Eigentumsrechte und einem gnadenlosen Wettbewerb ausgeliefert, hat in den vergangenen Jahrhunderten zweifellos ungeahnte Kräfte der menschlichen Intelligenz wachgerufen. Der ethische Defekt privativer Blindheit konnte übersehen werden, solange das mechanische Weltbild nur die mechanische Natur der Kräfte und Energien im Maschinenbau und der elektrotechnischen Industrie eroberte. Je näher aber das Wissen sich an die biologische Grundlage des Lebens herantastet, desto weniger kann die Einbettung der Menschen in die Natur ignoriert werden: Wir Menschen sind nun einmal aus dieser Natur „gebaut“ - wenn auch sicher nicht darauf reduzierbar.

Es ist nicht nur eine Maßlosigkeit der Geldgier, wenn Eigentumsrechte an Naturstoffen (Pflanzen, Tieren, chemischen Stoffen usw.) durch Patente reklamiert werden, es ist vor allem eine grundlegende Blindheit, auf der eine solche Instrumentalisierung beruht. Eine instrumentalisierte Intelligenz, die von ihrer sozialen und natürlichen Einbettung nichts mehr weiß, schlägt um ins Gegenteil: in Dummheit. „Freiheit der Forschung“ ist eigentlich nur die durchsichtige Übersetzung der „Freiheit der Verwertung“, also das ungetrübte Recht des Privateigentums,  die Wissenschaften profitabel ausnutzen zu können. Das wird immer dann deutlich, wenn einem ethischen Einwand gegen umstrittene Forschungsvorhaben entgegengehalten wird: Dies führe zu einem globalen Wettbewerbsnachteil. Quod erat demonstrandum.

Die kreative Intelligenz braucht Muße. Dem Diktat des Wettbewerbs untergeordnet, verkürzen sich aber nicht nur die Produktzyklen, es verkürzt sich auch die Reifezeit der Ideen. Die Folge ist, daß schlecht Durchdachtes die Märkte als fertiges Produkt betritt und an die Stelle einer inneren Qualität die Überrumpelung durch das Marketing tritt. Solange hierbei nur die zweit- oder drittbesten Videoformate oder Betriebssysteme für PC´s monopolisiert und die Märkte mit unausgegorenen Produkten überschwemmt werden, ergeben sich „nur“ Effizienznachteile und ein (allerdings nicht unbeträchtlicher) gesamtwirtschaftlicher Schaden. Bei chemischen, biologischen oder genetisch veränderten Produkten kann eine Verkürzung der Entwicklungszeiten im Kielwasser verkürzter Produktlebenszyklen aber tödlich sein.

Eine beschleunigte Marktdynamik ist beinahe die Gewähr für gefährlich halbgare Gedanken, und diese Gefahr wächst exponentiell. Die Globalisierung des Wettbewerbs sorgt dafür, daß ethische Skrupel schon in der Forschung minimiert werden. Die forschende Intelligenz wird durch den Markt  (der sich längst die Universitäten erobert hat – das meint „Bildungsreform“) ihrer inneren ethischen Dimension beraubt. Die Zeiten der großen Moralisten unter den Wissenschaftlern (wie W. Heisenberg, E. Schrödinger, C. F. von Weizsäcker oder E. Chargaff) dürften vorbei sein. Die meisten Forscher übersehen geflissentlich, wer eigentlich das Sagen hat und wer in der globalen Ökonomie die wissenschaftlichen Ziele festlegt. Auf den Märkten haben die Verbraucher immer erst an den vollendeten Tatsachen der fertigen Produkte ein Mitspracherecht, nicht bei den Zielen der Forschung. Und die Politik wiederum läßt sich ihre Ziele vom globalen Wettbewerb diktieren. Der Teufelskreis ist geschlossen.

Fehlt die Einsicht in die ethische Natur der Intelligenz an jener Stelle, an der sie neues Wissen hervorbringt, dann zwingen die Wirkungen zu nachträglichen Korrekturen, die strukturell immer zu spät kommen und zudem erst dann ins öffentliche Bewußtsein treten, wenn sie das Ausmaß von Katastrophen angenommen haben. Der darin liegende Zynismus überantwortet die resultierenden Kosten (von Menschenleben zu schweigen) dann jener Öffentlichkeit, der eine Mitwirkung bei den Forschungszielen empört im Namen der „Freiheit der Forschung“ verwehrt wird. Der Gedanke an eine wertneutrale Forschung gehört aber zu den Illusionen jenes mechanischen Zeitalters, das im vorherigen Jahrhundert zu Ende gegangen ist. Doch Illusionen haben ihre ganz eigene Form der Reproduktion, vor allem dann, wenn sie mit monetären Interessen gepaart sind und den Aktienindex mit einem IQ verwechseln. Es war aber, wie John Kenneth Galbraith in milder Ironie sagte, schon immer eine „trügerische Vorstellung, Geld und Intelligenz müßten miteinander einhergehen.“

 

 

 


© 2001 K.-H. Brodbeck, Ethik-Letter

E-Mail |Homepage