aus: Ethik Letter LayReport 3/1999, S. 4-11

Verborgene Werte in der globalen Ökonomie

Aspekte impliztier Ethik

Karl-Heinz Brodbeck



Man kann ethische Systeme in zwei Schulen einteilen: Jene, in denen die Motivation einer Handlung als bestimmende Größe für die Beurteilung herangezogen wird, und die andere, die auf die Resultate des Handelns blickt. Beide Betrachtungsweisen haben mit Problemen zu kämpfen. Doch ein Problem schlummert verborgen in beiden Fragestellungen. Und diesem Problem möchte ich mich zuwenden.

Beide Betrachtungsweisen ethischen Handelns setzen stillschweigend etwas voraus: Einen Rahmen, ein Denkmodell, in dem ethisches Handeln beurteilt wird. Die Intention des Handelns ist nicht leer und unbestimmt. Sie bildet sich immer im Rahmen eines bestimmten Denksystems. Ein Moslem wird sein Handeln völlig anders begründen als ein Schüler des Gerechtigkeitstheoretikers John Rawls. Man hat ein gutes oder schlechtes Gewissen im Rahmen eines Denkmodells, das man für sein Handeln akzeptiert. Dasselbe gilt für die Beurteilung von Handlungsresultaten. Auch sie erscheinen in einem anderen Denkrahmen ganz anders. Jeder ethischen Entscheidung in einem bestimmten Rahmen geht dieser Rahmen, geht die Akzeptanz dieses Rahmens voraus. Um sich Entscheidungen gemäß einer christlichen Ethik zueigen zu machen, muß man erst Christ geworden sein.

Nun scheint dieser Gedanke für religiöse Systeme leicht durchschaubar. Die Erfahrungen nicht nur der europäischen Geschichte haben gelehrt, daß es nicht so etwas wie ein verbindliches System der religiösen Werte geben kann. Demokratien sind nicht zuletzt auch Systeme der Pluralität religiöser Überzeugungen. Allerdings stellt sich auch und gerade in Demokratien die Frage nach allgemein gültigen Grundwerten, wie sie etwa im Menschenrechtskatalog vorliegen. Diese Grundwerte sind in der Regel - auch wenn sie nicht globale Anerkennung finden - in hohem Maße bewußt. Man akzeptiert oder relativiert sie als Folge ein in einer bewußten Werteentscheidung. (Begegnungen zwischen Politikern des Westens und Chinas sind ein Beispiel für diesen Diskurs.)

Neben diesen bewußten Grundwerten gibt es aber eine ganz andere Ethik, die - wiewohl vielfältig akzeptiert - nicht als Ethik erkannt und anerkannt ist. Ich habe dafür den Begriff der impliziten Ethik vorgeschlagen. Eine implizite Ethik ist nicht in Bewertungen und Entscheidungen innerhalb eines bekannten Katalogs moralischer Werte zu suchen, eine implizite Ethik ist im Rahmen, in den allgemein akzeptierten Denkmodellen, im »Paradigma« einer Zeit verborgen. Ganz anders als bei religiösen Systemen, ist dieser Denkrahmen allerdings - gerade weil er von fast allen akzeptiert wird - gar nicht als ethisches System erkannt.

Vor allem in unseren ökonomischen Denkmodellen verbirgt sich eine implizite Ethik. Die Schwierigkeit, diese Ethik zu erkennen, liegt in ihrer allgemeinen Verbreitung und ihrer perspektivischen Wirkung. Niemand scheint heute mehr daran zu zweifeln, daß die Marktwirtschaft das einzige Wirtschaftsmodell der globalen Ökonomie sein kann. Der marktwirtschaftliche Denkrahmen ist allgemeiner akzeptiert, als es je ein religiöses oder philosophisches System war. Die Marktwirtschaft ist aber - bereits seit ihrer Geburtsstunde im Fernhandel, z.B. entlang der Seidenstraße - immer schon latent globale Ökonomie gewesen. Und dieser mehr und mehr hervortretenden planetarischen Wirtschaftsweise wohnt eine eigentümliche perspektivische Verkürzung, eine kognitive Schranke inne. Wie der Pilot, der den Abwurf einer Bombe auf Belgrad aus seinem Flugzeug nur perspektivisch entfremdet als ferne Explosion beobachtet - obgleich er sie verursachte -, ebenso sind die Fernwirkungen wirtschaftlichen Handelns dem Handlungsbewußtsein entrückt. Nicht völlig entrückt - sie sind entrückt als Wirkungen des eigenen Handelns. Und hier wird eine besonders drastische Konsequenz der impliziten Ethik wirtschaftlichen Handelns deutlich. (Die potenzierte Ferne der Kriegsbilder auf dem heimischen Bildschirm und die darin liegende implizite Ethik der Medien, der politischen Rhetorik usw. könnte diesen Zusammenhang weit über den hier diskutierten ökonomischen Rahmen hinaus noch verdeutlichen - dieser Gedanke sei hier nicht weiter vertieft.)

Ich möchte die Faktizität der impliziten Ethik an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Wir hören und lesen von einer erneuten Hungerkatastophe in Asien oder in Afrika. Von den Bildern bewegt, mag der eine oder andere einem Spendenaufruf folgen, der Einladung zu einem feierlichen Abendessen für eine Wohltätigkeitsveranstaltung - gekrönt durch eine schöne Geste des Einsammelns von Spenden. Während dieses Abendessens werden Fleisch, Fisch und exotische Früchte serviert. Niemand denkt beim Kauf und Verzehr dieser Produkte daran, daß die Fisch- oder Krabbenzucht in Asien ganze Küstenregionen verwüstet, daß die exotischen Früchte in anderen Ländern zu Monokulturen führen, die eine fortgesetzte Bodenerosion fördern, daß der »Rohstoff« für Steaks, die weltweit 1,3 Milliarden Rinder (mit einem Lebendgewicht von mehr als dem Zehnfachen aller lebenden Menschen), zum großen Teil auf Grasflächen weidend, die durch abgebrannte Wälder (mit gewaltigen Mengen Kohlendioxid bei der Brandrodung) gewonnen wurden, Rinder, aus deren Mägen Methangas in der Zwanzigfachen Menge des Kohlendioxids in die Atmosphäre entweicht und das Weltklima aus dem Gleichgewicht bringt. Niemand denkt beim Kauf in der Frischfleischabteilung des Supermarkts an das faktische »Ja zu dieser globalen Konsequenz - und gerade darin erweist sich das alltägliche Handeln als durch eine implizite Ethik geleitet. Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, bezeichnete den Kaufakt der Konsumenten als Abstimmung mit dem Geldschein über die Vielfalt der Warenparteien auf dem Markt. Er vergaß hinzuzufügen, daß die Konsumenten damit auch implizit über die globale Organisationsform »Marktwirtschaft« und ihre Wirkungen »abstimmen« - sie stimmen den Wirkungen ihrer Handlungen faktisch zu, wie immer sie ihre Motive beim Kauf beschreiben mögen. Das gilt auch und vielleicht vermehrt für die Führungsetagen in der Wirtschaft, die zwar globale Konsequenzen deutlich vor Augen haben, sie aber durch das kognitive Fenster der Gewinnmaximierung noch mehr auf beschränkte Privatinteressen einengen als viele kritische Konsumenten. Die Selbstverständlichkeit, mit der ökonomische Prozesse durch Kauf und Verkauf weltweit organisiert werden, verdeckt fast völlig die planetarischen Konsequenzen dieses Handelns.

Dabei sind diese Konsequenzen leicht zu durchschauen: Wenn wir in den Ländern des Nordens auf ganz alltägliche Weise Güter konsumieren, die aus oder mit knappen globalen Ressourcen erzeugt werden, dann erhöht unser Konsum die Preise für diese Ressourcen. Diese relative Preiserhöhung macht für weite Teile der Weltbevölkerung (wenigstens 800 Millionen) - vor allem bei Mißernten oder Naturkatastrophen - diese Ressourcen unerschwinglich teuer. Die Folge sind Hunger und Unterernährung. Allein 12 Millionen Kinder sterben jährlich vor dem fünfzehnten Lebensjahr. Sie sind der Kolateralschaden unseren ökonomischen Handelns.

In unserer Wahrnehmung sind dies fern liegende Ereignisse, nicht Folgen unseres Handelns. Die Anerkennung der derzeitig von uns praktizierten Weltökonomie - nicht durch einen Glaubensakt der Bekehrung, vielmehr durch den alltäglichen Einkauf - impliziert das, was wir als fernes Ereignis bedauernd auf den Fernsehschirmen zur Kenntnis nehmen. Die selbstverständliche Gewohnheit, den wirtschaftlichen Rahmen und die zugrunde liegenden Denkmodelle zu akzeptieren, führt aber global und ursächlich das herbei, was wir von ferne beobachten.

Das kognitive Fenster, das durch die akzeptierten ökonomischen Denkmodelle (und ihre wissenschaftlichen Begründungen) geöffnet wird, ist viel zu eng. Es verbirgt als implizite Ethik ein Handeln, das wir von in seinen Wirkungen als etwas Fremdes und Fernes bestaunen. Ethik heißt immer, Beurteilung von Handlungsresultaten oder jener Motive, die das Handeln lenken. In den Motiven wirtschaftlichen Handelns sind die Resultate des Handelns nicht enthalten, genauer: Das kleine kognitive Fenster, das unser wirtschaftliches Weltbild öffnet, blendet weite Teile dieser Resultate aus. Der Blick verengt sich auf das Nächstliegende: Das eigene Einkommen, die Börsenkurse jener Aktien, die man gekauft hat usw. Was aber für uns einfache Fakten zu sein scheinen, sind Elemente in einer globalen Verflechtung von Handlungen. Es gibt keine isolierten Fakten, es gibt nur abstrahierende, das heißt abschneidende und ausgrenzende Denkmodelle. Wer unschuldig ein Steak verzehrt und dafür mit »hart erarbeitetem Geld« bezahlt, der verzehrt indirekt Futtermittel, Getreide in einem vielfachen Umfang - Getreide, das so indirekt nachgefragt die Getreidepreise relativ auf ein Weltmarktpreisniveau anhebt, dem periodisch globaler Hunger folgt.

Hungerkatastrophen sind nicht eine Folge von absoluter Nahrungsknappheit, sondern eine Folge zu geringer Einkommen und dazu relativ zu hoher Preise, also Folgen einer ungleichen, einer zunehmend ungleicher werdenden Einkommensverteilung. Hätten die Ärmsten der Armen im Süden ein relativ an den Verhältnissen des Nordens gemessen höheres Einkommen, so würde deren relative Nachfrage das im Norden verzehrte Steak deutlich verteuern. Der niedere Preis, das Sonderangebot im Supermarkt, hat also eine häßliche globale Rückseite, die man nach dem Essen als mediales Fernereignis in »fernen Weltgegenden« zur Kenntnis nimmt. Das Mitleid mit den Hungernden vor den Bildschirmen ist sicherlich nicht geheuchelt und ehrlich, die Spende nicht minder. Doch man sieht als fremdes Ereignis, was Resultat der eigenen Gewohnheit des Denkens und Handelns ist.

Das Motiv des Handelns und das Resultat des Handelns fallen weit auseinander; der Zusammenhang zwischen beiden ist durch das beschränkte kognitive Fenster jener Weltwahrnehmung, die durch die herrschenden ökonomischen Denkmodelle geöffnet wird, scheinbar zerrissen. Deshalb gehen Ethiken, die entweder an der Motivation ansetzt oder zur Beurteilung die faktischen Handlungsresultate heranziehen, gleichermaßen in die Irre. Eine planetarisch vernetzte Welt, die auch über ökologische Kreisläufe andere Lebewesen untrennbar einbindet, kann nicht nach dem Modell individuellen Handelns ethisch zutreffend beurteilt werden. Auch die Bewußtheit über das Handeln kann kein alleiniger ethischer Maßstab geltender Werte in einer globalen Ökonomie sein. Faktisch werden Handlungen durch global anerkannte Denkschemata gesteuert, die dem herrschenden ökonomischen Glaubensbekenntnis entspringen: Dem Lob der egoistischen Konkurrenz, dem Primat des Privaten, dem Schein der Privatisierbarkeit von Handlungen und Handlungsresultaten, dem Glauben an die universelle Meßbarkeit aller Dinge als Reflex des kaufmännischen Bestrebens, die Welt in ein rechenbares Warenkontor zu verwandeln. Es sind die alltäglichen Denkmodelle und Denkgewohnheiten, in denen und aus denen wir handeln, deren implizite Ethik unbewußt bleibt - aber dennoch nicht minder wirksam ist.

Je weiter wir uns in abstrakte Regionen der Wissenschaft begeben, desto weniger ist diese implizite Ethik erkannt und gedacht. Die implizite Ethik versteckt sich vor allem hinter und durch die These, Tatsachen und Werturteile seien klar zu unterscheiden. Während die Wirtschaftswissenschaften immer noch am Dogma der Trennbarkeit von Tatsachen und ethischen Werten festhalten, hat sich die analytische Philosophie - die dieses Dogma einst mit Nachdruck popularisierte -, davon längst getrennt. So sagt z.B. Hilary Putnam, der vielleicht wichtigste zeitgenössische Vertreter dieser philosophischen Strömung, »daß die Vorstellung von einem scharfen Schnitt zwischen ›Fakten‹ und ›Werten‹ grundfalsch ist [H. Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, S. 173]. Das gilt für alle Wissenschaften, vor allem aber für die Ökonomie.

Wirtschaftswissenschaft ist implizite Ethik, sie beschreibt keine »objektiven« Tatsachen. Sie beschreibt und erzeugt jene »Tatsachen«, die sie als fremde bestaunt. Das trifft auch ganz unmittelbar zu: Studenten der Wirtschaftswissenschaften zeigen nach einigen Semestern in auffälliger Weise ein weitaus egoistischeres Verhalten als ihre Kommilitonen anderer Fachbereiche, wie einige Studien gezeigt haben. Es gilt aber auch dadurch, daß Ökonomen zu einem notorisch guten Gewissen beitragen, wenn sie Probleme internationaler Abhängigkeit ganz »wertneutral« als Frage der »Tauschrelationen« (terms of trade) abhandeln, in denen sich »nur« Marktprozesse abzeichnen sollen.

Daß Ökonomen jene Wirklichkeit, die sie beschreiben, mit erschaffen durch ihre Denkmodelle, vor allem dadurch, daß sie die Politik und die Öffentlichkeit in diesen Denkformen programmieren, das wird eher selten unmittelbar deutlich, wenn spürbare nachteilige Wirkungen wirtschaftspolitischen Handelns sich an öffentlich diskutierten ökonomischen Lehrmeinungen orientieren,

wie jüngst die Zinspolitik der Zentralbanken im Streit mit den früheren Bundesfinanzminister oder, um ein Beispiel der jüngsten Vergangenheit aus dem privaten Sektor zu nennen, beim Zusammenbruch der Hedge-Fonds im Herbst 1998 in den USA. Viele dieser Fonds verwendeten in Computerprogrammen ein Modell, das noch ein Jahr zuvor durch den Wirtschaftsnobelpreis gekürt und von vielen Ökonomenen als »wunderbare Formel« (P. A. Samuelson) gepriesen wurde. Hier wandten Wirtschaftswissenschaftler ihre eigenen Modelle unmittelbar praktisch an, mit katastrophalen Folgen - Folgen, die durch sozialisierte Kosten die gesamte Gesellschaft tragen muß. In dieser von Black, Merton, Scholes entwickelten Formel kam die wichtigste Variable nicht vor: Jene Organisatoren der Hedge-Fonds, die eben diese Formal selbst praktisch anwandten.

Dieses Beispiel zeigt auf einen allgemeinen Sachverhalt in der Ökonomie, daß die Anwendung eines Denkmodells in der Regel ganz andere Konsequenzen hat, als innerhalb dieses Denkmodells erkannt und gesehen wird. Denkmodelle über wirtschaftliche Tatbestände sind wirksam, meist aber ganz anders, als von jenen vermutet, die sie wissenschaftliche Begründen. Die Unschuld des Kaufs und Verkaufs von Gütern hat jedoch immer viel weitreichendere Folgen als im unmittelbaren Umfeld erkannt ist oder erkannt sein kann. Das kognitive Fenster der alltäglichen wirtschaftlichen »Grundüberzeugungen« - wie die Billigung der egoistischen Konkurrenz, die Fraglosigkeit der Nutzen- und Gewinnmaximierung, das Lob des Wettbewerbs oder der Wertpapiermärkte - dieses kognitive Fenster ist stets eine Begrenzung der Erkenntnis. Jede Schranke aber, die praktisch wirksam wird, ist faktisch eine ethische Vorschrift. Sie aufzudecken ist die Aufgabe einer impliziten Ethik der globalen Ökonomie.




© 2005 Karl-Heinz Brodbeck
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Stand: 3. April 2005