aus: Ethik Letter LayReport 3/1999,
S. 4-11
Man kann ethische Systeme in zwei Schulen einteilen:
Jene, in denen die Motivation einer Handlung als bestimmende Größe für die
Beurteilung herangezogen wird, und die andere, die auf die Resultate des
Handelns blickt. Beide Betrachtungsweisen haben mit Problemen zu kämpfen. Doch
ein Problem schlummert verborgen in beiden Fragestellungen. Und diesem
Problem möchte ich mich zuwenden.
Beide Betrachtungsweisen ethischen Handelns
setzen stillschweigend etwas voraus: Einen Rahmen, ein Denkmodell, in dem
ethisches Handeln beurteilt wird. Die Intention des Handelns ist nicht leer und
unbestimmt. Sie bildet sich immer im Rahmen eines bestimmten Denksystems. Ein
Moslem wird sein Handeln völlig anders begründen als ein Schüler des
Gerechtigkeitstheoretikers John Rawls. Man hat ein gutes oder schlechtes
Gewissen im Rahmen eines Denkmodells, das man für sein Handeln
akzeptiert. Dasselbe gilt für die Beurteilung von Handlungsresultaten. Auch sie
erscheinen in einem anderen Denkrahmen ganz anders. Jeder ethischen
Entscheidung in einem bestimmten Rahmen geht dieser Rahmen, geht die Akzeptanz
dieses Rahmens voraus. Um sich Entscheidungen gemäß einer christlichen Ethik
zueigen zu machen, muß man erst Christ geworden sein.
Nun scheint dieser Gedanke für religiöse
Systeme leicht durchschaubar. Die Erfahrungen nicht nur der europäischen
Geschichte haben gelehrt, daß es nicht so etwas wie ein verbindliches
System der religiösen Werte geben kann. Demokratien sind nicht zuletzt auch
Systeme der Pluralität religiöser Überzeugungen. Allerdings stellt sich auch
und gerade in Demokratien die Frage nach allgemein gültigen
Grundwerten, wie sie etwa im Menschenrechtskatalog vorliegen. Diese Grundwerte
sind in der Regel - auch wenn sie nicht globale Anerkennung finden - in hohem
Maße bewußt. Man akzeptiert oder relativiert sie als Folge ein in
einer bewußten Werteentscheidung. (Begegnungen zwischen Politikern des Westens
und Chinas sind ein Beispiel für diesen Diskurs.)
Neben diesen bewußten Grundwerten
gibt es aber eine ganz andere Ethik, die - wiewohl vielfältig akzeptiert -
nicht als Ethik erkannt und anerkannt ist. Ich habe dafür den Begriff
der impliziten Ethik vorgeschlagen. Eine implizite Ethik ist nicht in
Bewertungen und Entscheidungen innerhalb eines bekannten
Katalogs moralischer Werte zu suchen, eine implizite Ethik ist im Rahmen,
in den allgemein akzeptierten Denkmodellen, im »Paradigma« einer Zeit
verborgen. Ganz anders als bei religiösen Systemen, ist dieser
Denkrahmen allerdings - gerade weil er von fast allen akzeptiert wird - gar
nicht als ethisches System erkannt.
Vor allem in unseren ökonomischen Denkmodellen
verbirgt sich eine implizite Ethik. Die Schwierigkeit, diese Ethik zu erkennen,
liegt in ihrer allgemeinen Verbreitung und ihrer perspektivischen Wirkung.
Niemand scheint heute mehr daran zu zweifeln, daß die Marktwirtschaft das
einzige Wirtschaftsmodell der globalen Ökonomie sein kann. Der
marktwirtschaftliche Denkrahmen ist allgemeiner akzeptiert, als es je ein
religiöses oder philosophisches System war. Die Marktwirtschaft ist aber -
bereits seit ihrer Geburtsstunde im Fernhandel, z.B. entlang der Seidenstraße -
immer schon latent globale Ökonomie gewesen. Und dieser mehr und mehr
hervortretenden planetarischen Wirtschaftsweise wohnt eine
eigentümliche perspektivische Verkürzung, eine kognitive Schranke inne. Wie der
Pilot, der den Abwurf einer Bombe auf Belgrad aus seinem Flugzeug nur
perspektivisch entfremdet als ferne Explosion beobachtet - obgleich er sie
verursachte -, ebenso sind die Fernwirkungen wirtschaftlichen Handelns dem
Handlungsbewußtsein entrückt. Nicht völlig entrückt - sie sind
entrückt als Wirkungen des eigenen Handelns. Und hier wird eine
besonders drastische Konsequenz der impliziten Ethik wirtschaftlichen Handelns
deutlich. (Die potenzierte Ferne der Kriegsbilder auf dem heimischen Bildschirm
und die darin liegende implizite Ethik der Medien, der politischen
Rhetorik usw. könnte diesen Zusammenhang weit über den hier diskutierten
ökonomischen Rahmen hinaus noch verdeutlichen - dieser Gedanke sei hier nicht
weiter vertieft.)
Ich möchte die Faktizität der impliziten
Ethik an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Wir hören und lesen von einer
erneuten Hungerkatastophe in Asien oder in Afrika. Von den Bildern bewegt, mag
der eine oder andere einem Spendenaufruf folgen, der Einladung zu einem
feierlichen Abendessen für eine Wohltätigkeitsveranstaltung - gekrönt durch
eine schöne Geste des Einsammelns von Spenden. Während dieses Abendessens
werden Fleisch, Fisch und exotische Früchte serviert. Niemand denkt beim Kauf
und Verzehr dieser Produkte daran, daß die Fisch- oder Krabbenzucht in Asien
ganze Küstenregionen verwüstet, daß die exotischen Früchte in anderen Ländern
zu Monokulturen führen, die eine fortgesetzte Bodenerosion fördern, daß der
»Rohstoff« für Steaks, die weltweit 1,3 Milliarden Rinder (mit einem
Lebendgewicht von mehr als dem Zehnfachen aller lebenden Menschen), zum großen
Teil auf Grasflächen weidend, die durch abgebrannte Wälder (mit gewaltigen
Mengen Kohlendioxid bei der Brandrodung) gewonnen wurden, Rinder, aus deren
Mägen Methangas in der Zwanzigfachen Menge des Kohlendioxids in die Atmosphäre
entweicht und das Weltklima aus dem Gleichgewicht bringt. Niemand denkt beim
Kauf in der Frischfleischabteilung des Supermarkts an das faktische »Ja!« zu dieser globalen Konsequenz - und gerade darin erweist
sich das alltägliche Handeln als durch eine implizite Ethik geleitet.
Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, bezeichnete den
Kaufakt der Konsumenten als Abstimmung mit dem Geldschein über die Vielfalt der
Warenparteien auf dem Markt. Er vergaß hinzuzufügen, daß die Konsumenten damit
auch implizit über die globale Organisationsform »Marktwirtschaft« und
ihre Wirkungen »abstimmen« - sie stimmen den Wirkungen ihrer Handlungen faktisch
zu, wie immer sie ihre Motive beim Kauf beschreiben mögen. Das gilt auch und
vielleicht vermehrt für die Führungsetagen in der Wirtschaft, die zwar globale
Konsequenzen deutlich vor Augen haben, sie aber durch das kognitive Fenster der
Gewinnmaximierung noch mehr auf beschränkte Privatinteressen einengen als viele
kritische Konsumenten. Die Selbstverständlichkeit, mit der ökonomische Prozesse
durch Kauf und Verkauf weltweit organisiert werden, verdeckt fast völlig die planetarischen
Konsequenzen dieses Handelns.
Dabei sind diese Konsequenzen leicht zu
durchschauen: Wenn wir in den Ländern des Nordens auf ganz alltägliche Weise
Güter konsumieren, die aus oder mit knappen globalen Ressourcen
erzeugt werden, dann erhöht unser Konsum die Preise für diese Ressourcen. Diese
relative Preiserhöhung macht für weite Teile der Weltbevölkerung (wenigstens
800 Millionen) - vor allem bei Mißernten oder Naturkatastrophen - diese
Ressourcen unerschwinglich teuer. Die Folge sind Hunger und Unterernährung.
Allein 12 Millionen Kinder sterben jährlich vor dem fünfzehnten Lebensjahr. Sie
sind der Kolateralschaden unseren ökonomischen Handelns.
In unserer Wahrnehmung sind dies fern
liegende Ereignisse, nicht Folgen unseres Handelns. Die Anerkennung
der derzeitig von uns praktizierten Weltökonomie - nicht durch einen
Glaubensakt der Bekehrung, vielmehr durch den alltäglichen Einkauf - impliziert
das, was wir als fernes Ereignis bedauernd auf den Fernsehschirmen zur Kenntnis
nehmen. Die selbstverständliche Gewohnheit, den wirtschaftlichen Rahmen und die
zugrunde liegenden Denkmodelle zu akzeptieren, führt aber global und
ursächlich das herbei, was wir von ferne beobachten.
Das kognitive Fenster, das durch die
akzeptierten ökonomischen Denkmodelle (und ihre wissenschaftlichen
Begründungen) geöffnet wird, ist viel zu eng. Es verbirgt als implizite
Ethik ein Handeln, das wir von in seinen Wirkungen als etwas
Fremdes und Fernes bestaunen. Ethik heißt immer, Beurteilung von
Handlungsresultaten oder jener Motive, die das Handeln lenken. In den Motiven
wirtschaftlichen Handelns sind die Resultate des Handelns nicht
enthalten, genauer: Das kleine kognitive Fenster, das unser wirtschaftliches
Weltbild öffnet, blendet weite Teile dieser Resultate aus. Der Blick verengt
sich auf das Nächstliegende: Das eigene Einkommen, die Börsenkurse jener
Aktien, die man gekauft hat usw. Was aber für uns einfache Fakten zu
sein scheinen, sind Elemente in einer globalen Verflechtung von Handlungen. Es
gibt keine isolierten Fakten, es gibt nur abstrahierende, das heißt abschneidende
und ausgrenzende Denkmodelle. Wer unschuldig ein Steak verzehrt und dafür
mit »hart erarbeitetem Geld« bezahlt, der verzehrt indirekt
Futtermittel, Getreide in einem vielfachen Umfang - Getreide, das so indirekt
nachgefragt die Getreidepreise relativ auf ein Weltmarktpreisniveau anhebt,
dem periodisch globaler Hunger folgt.
Hungerkatastrophen sind nicht eine Folge von
absoluter Nahrungsknappheit, sondern eine Folge zu geringer Einkommen und dazu
relativ zu hoher Preise, also Folgen einer ungleichen, einer zunehmend
ungleicher werdenden Einkommensverteilung. Hätten die Ärmsten der Armen im
Süden ein relativ an den Verhältnissen des Nordens gemessen höheres Einkommen,
so würde deren relative Nachfrage das im Norden verzehrte Steak deutlich
verteuern. Der niedere Preis, das Sonderangebot im Supermarkt, hat also eine
häßliche globale Rückseite, die man nach dem Essen als mediales
Fernereignis in »fernen Weltgegenden« zur Kenntnis nimmt. Das Mitleid mit den
Hungernden vor den Bildschirmen ist sicherlich nicht geheuchelt und ehrlich,
die Spende nicht minder. Doch man sieht als fremdes Ereignis, was Resultat
der eigenen Gewohnheit des Denkens und Handelns ist.
Das Motiv des Handelns und das Resultat des
Handelns fallen weit auseinander; der Zusammenhang zwischen beiden ist durch
das beschränkte kognitive Fenster jener Weltwahrnehmung, die durch die
herrschenden ökonomischen Denkmodelle geöffnet wird, scheinbar zerrissen.
Deshalb gehen Ethiken, die entweder an der Motivation ansetzt oder
zur Beurteilung die faktischen Handlungsresultate heranziehen, gleichermaßen in
die Irre. Eine planetarisch vernetzte Welt, die auch über ökologische
Kreisläufe andere Lebewesen untrennbar einbindet, kann nicht nach dem Modell individuellen
Handelns ethisch zutreffend beurteilt werden. Auch die Bewußtheit
über das Handeln kann kein alleiniger ethischer Maßstab geltender Werte in
einer globalen Ökonomie sein. Faktisch werden Handlungen durch global
anerkannte Denkschemata gesteuert, die dem herrschenden ökonomischen
Glaubensbekenntnis entspringen: Dem Lob der egoistischen Konkurrenz, dem Primat
des Privaten, dem Schein der Privatisierbarkeit von Handlungen und
Handlungsresultaten, dem Glauben an die universelle Meßbarkeit aller Dinge als
Reflex des kaufmännischen Bestrebens, die Welt in ein rechenbares Warenkontor
zu verwandeln. Es sind die alltäglichen Denkmodelle und Denkgewohnheiten, in
denen und aus denen wir handeln, deren implizite Ethik unbewußt bleibt -
aber dennoch nicht minder wirksam ist.
Je weiter wir uns in abstrakte Regionen der
Wissenschaft begeben, desto weniger ist diese implizite Ethik erkannt und
gedacht. Die implizite Ethik versteckt sich vor allem hinter und durch die
These, Tatsachen und Werturteile seien klar zu unterscheiden. Während die
Wirtschaftswissenschaften immer noch am Dogma der Trennbarkeit von Tatsachen
und ethischen Werten festhalten, hat sich die analytische Philosophie - die
dieses Dogma einst mit Nachdruck popularisierte -, davon längst getrennt. So
sagt z.B. Hilary Putnam, der vielleicht wichtigste zeitgenössische Vertreter dieser
philosophischen Strömung, »daß die Vorstellung von einem scharfen Schnitt
zwischen ›Fakten‹ und ›Werten‹ grundfalsch ist.« [H.
Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, Stuttgart 1997, S. 173]. Das gilt
für alle Wissenschaften, vor allem aber für die Ökonomie.
Wirtschaftswissenschaft ist implizite
Ethik, sie beschreibt keine
»objektiven« Tatsachen. Sie beschreibt und erzeugt jene »Tatsachen«,
die sie als fremde bestaunt. Das trifft auch ganz unmittelbar zu: Studenten der
Wirtschaftswissenschaften zeigen nach einigen Semestern in auffälliger Weise
ein weitaus egoistischeres Verhalten als ihre Kommilitonen anderer
Fachbereiche, wie einige Studien gezeigt haben. Es gilt aber auch dadurch, daß
Ökonomen zu einem notorisch guten Gewissen beitragen, wenn sie Probleme
internationaler Abhängigkeit ganz »wertneutral« als Frage der
»Tauschrelationen« (terms of trade) abhandeln, in denen sich »nur«
Marktprozesse abzeichnen sollen.
Daß Ökonomen jene Wirklichkeit, die sie
beschreiben, mit erschaffen durch ihre Denkmodelle, vor allem dadurch,
daß sie die Politik und die Öffentlichkeit in diesen Denkformen programmieren,
das wird eher selten unmittelbar deutlich, wenn spürbare nachteilige
Wirkungen wirtschaftspolitischen Handelns sich an öffentlich diskutierten ökonomischen
Lehrmeinungen orientieren,
wie jüngst die Zinspolitik der Zentralbanken
im Streit mit den früheren Bundesfinanzminister oder,
um ein Beispiel der jüngsten Vergangenheit aus dem privaten Sektor zu nennen,
beim Zusammenbruch der Hedge-Fonds im Herbst 1998 in den USA. Viele dieser
Fonds verwendeten in Computerprogrammen ein Modell, das noch ein Jahr zuvor
durch den Wirtschaftsnobelpreis gekürt und von vielen Ökonomenen als
»wunderbare Formel« (P. A. Samuelson) gepriesen wurde. Hier wandten Wirtschaftswissenschaftler
ihre eigenen Modelle unmittelbar praktisch an, mit katastrophalen
Folgen - Folgen, die durch sozialisierte Kosten die gesamte Gesellschaft tragen
muß. In dieser von Black, Merton, Scholes entwickelten Formel kam die
wichtigste Variable nicht vor: Jene Organisatoren der Hedge-Fonds, die eben
diese Formal selbst praktisch anwandten.
Dieses Beispiel zeigt auf einen allgemeinen
Sachverhalt in der Ökonomie, daß die Anwendung eines Denkmodells in
der Regel ganz andere Konsequenzen hat, als innerhalb dieses
Denkmodells erkannt und gesehen wird. Denkmodelle über wirtschaftliche
Tatbestände sind wirksam, meist aber ganz anders, als von jenen
vermutet, die sie wissenschaftliche Begründen. Die Unschuld des Kaufs und
Verkaufs von Gütern hat jedoch immer viel weitreichendere Folgen als im
unmittelbaren Umfeld erkannt ist oder erkannt sein kann. Das kognitive
Fenster der alltäglichen wirtschaftlichen »Grundüberzeugungen« - wie die
Billigung der egoistischen Konkurrenz, die Fraglosigkeit der Nutzen- und Gewinnmaximierung,
das Lob des Wettbewerbs oder der Wertpapiermärkte - dieses kognitive Fenster
ist stets eine Begrenzung der Erkenntnis. Jede Schranke aber, die
praktisch wirksam wird, ist faktisch eine ethische Vorschrift. Sie
aufzudecken ist die Aufgabe einer impliziten Ethik der globalen
Ökonomie.
© 2005 Karl-Heinz Brodbeck
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Stand: 3. April 2005