Erschienen in: J. Manemann (Hrsg.), Befristete Zeit, Jahrbuch für Politische Theologie Bd. 3 (1999), S. 135-150

 

 

Die Nivellierung der Zeit in der Ökonomie

 

Karl-Heinz Brodbeck

 

 

»Der Vernunft kommt es aber zu, ins Un­endliche fort­zuschrei­ten.

Wer darum Reichtümer begehrt, kann danach verlangen,

und zwar nicht etwa nur bis zu einer gewissen Grenze,

sondern er will schlechthin so reich sein, als er nur immer kann.«

 

Thomas von Aquin, S. Th. I 44,4[1]

 

 

Der Ratschlag Benjamin Franklins an einen jungen Handwer­ker: Bedenke, »daß Zeit Geld ist«[2], ist zu einem geflügelten Wort geworden. Diese behauptete Identität von Zeit und Geld ist keineswegs nur eine oberflächliche Zuordnung. Ich möchte zu zeigen versuchen, daß die Rolle der auf das Geld bezogenen Rationalität auch den Zeitbegriff der Moderne wesentlich geprägt hat. Der Zwang, immer mehr Lebensbereiche dem Diktat der Zeitmessung zu unterwerfen, hat seinen Grund in der immer noch wachsenden Subsumtion des menschlichen Handelns unter ökonomische Zwecke, unter den Zwang zur Geldvermehrung. Die vielfach konstatierte Tendenz zur Beschleunigung[3] ist die Bewegungsform dieses Prozesses.

 

Das ökonomische Prinzip

 

In der modernen Wirtschaftswissenschaft unterstellt man als Grundlage des wirtschaftlichen Handelns ein Prinzip (ökonomisches Prinzip), das als Maximierung eines Zwecks bei gegebenen Mitteln definiert wird.[4] Dieses Prinzip wird generell als »Rationalitätspostulat« bezeichnet, und man sieht in diesem Prinzip eine elementare Forderung an menschliches Handeln unter den  Bedingungen der Güterknappheit. Genauer gesagt wird das Rationalprinzip des ökonomischen Handelns aus der allgemeinen Knappheit von Gütern abgeleitet. Der Grundgedanke scheint einfach: Die menschlichen Bedürfnisse sind qualitativ unbestimmt, unterliegen nur der Schranke der Einbildungskraft, ihre Befriedigung bedarf aber immer auch materieller Güter, die auf einer beschränkten Erde nur in bestimmter Quantität verfügbar sind. Aus diesem Gegensatz einer qualitativen Unbegrenztheit der Bedürfnisse und den endlichen Mitteln zu ihrer Befriedigung ergibt sich (wenigstens für die Mehrzahl der Güter) ein Spannungsverhältnis, das als »Knappheit« erscheint und ein Handeln zu ihrer Bewältigung erfordert. Wie diese Knappheit bewältigt wird, das macht die Differenz unterschiedlicher Wirtschaftssysteme aus.

Bleibt das menschliche Handeln beschränkt durch eine tradierte Ordnung, die zugleich auch immer eine Einbindung in die natürliche Umwelt bedeutet, so sind es die Gesetze eines Staates, das Herkommen oder die moralischen Regeln, durch die der Umfang der Bedürfnisse auf die gegebenen Mittel begrenzt wird. Die Zeit fällt in dieser Form des Wirtschaftens zusammen mit den natürlichen Rhythmen: Erntezeiten, Laichzeiten für Fische, die Zeitdauer für die Zucht von Haustieren usw. Die Beschreibung solcher Wirtschaftsformen finden wir in der überlieferten Hauswirtschaftslehre, der Oikonomia.[5] Die Erde steht im Mittelpunkt; der Umlauf der Sonne und des Mondes bildet das Zeitmaß im Einklang mit den Rhythmen der Jahreszeiten. Zwar kann man sagen, daß auch in dieser Wirtschaftsweise das Prinzip der Sparsamkeit, der »ökonomischen« Mittelverwendung Gültigkeit hat. Doch dieses Prinzip ist in der sozialen, rechtlichen und ethischen Form implizit. Der Besitz ist stets von konkreter Gestalt, und die »Beschäftigung mit Besitz ist eine, die in Einklang mit der Natur steht.«[6] Als »ökonomisches Problem« ergibt sich hier, wie Aristoteles sagt, der Erwerb des Besitzes und seine Erhaltung, vor allem aber das »in Ordnung halten« und »der rechte Gebrauch«.[7]

 

Die Rationalität der Geldvermehrung

 

Der Grund dafür, daß das »Rationalitätspostulat« als äußeres Prinzip des Handelns formuliert wurde, liegt in einer zunächst schleichenden, später rasanten Veränderung des ökonomischen Prozesses. Zwischen verschiedenen bäuerlichen Hauswirtschaften oder Handwerkern fand schon in alter Zeit ein Austausch statt. Es war allerdings ein Austausch innerhalb einer Ordnung. So sind in Babylon in der Gesetzestafel Hammurabis Tauschrelationen zwischen Gütern in Stein gehauenes Gesetz. Auch Aristoteles berichtet noch von Marktaufsehern, die Preise überwachen.[8] In diesem Austausch spielten die Kaufleute zunächst nur die arbeitsteilige Rolle des Tauschvermittlers. Geld ist hierbei vor allem ein Rechen- und Tauschmedium.

Allerdings, und Aristoteles hat im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik darauf hingewiesen, kann das Geld diese Funktion nur erfüllen, wenn es auch dann Maßstab bleibt, falls nicht aktuell getauscht wird. Hier tritt auf eigentümliche Weise die Zeit in Beziehung zum Geld. Die Produktion von Gütern unterliegt jeweils eigenen Rhythmen, eigenen zeitlichen Mustern. Der Tausch ist nicht nur dadurch eine Koordination arbeitsteiliger Tätigkeiten, daß der »Baumeister mit dem Schuster« Waren austauscht; er bringt auch die unterschiedlichen Produktionszeiten in einen Ausgleich. Der Hausbau, das Fertigen von Schuhen und die Ernte von landwirtschaftlichen Produkten fallen in der Herstellung zeitlich und sachlich auseinander. Nur eine allgemeine Ware, die ihre Funktion, Maßstab im Tausch zu sein, über die Zeit hinweg behält, kann deshalb die Rolle des Vermittlers arbeitsteiliger Prozesse spielen. Aristoteles nennt diese Funktion des Geldes die eines »Bürgen«[9]. Geld ist als Zahlungsmittel ein Bürge in der Gegenwart für künftigen Austausch. Der Kaufmann verkörpert ursprünglich diese Funktion des Bürgen.

Durch die Entwicklung des Geldwesens trat jedoch bereits sehr früh ein neues, ganz anderes Ziel in der kaufmännischen Vermittlungstätigkeit hervor. Platon und Aristoteles bekämpften es mit Nachdruck, gleichzeitig bezogen sie die darin aufscheinende ganz andere Form der Rationalität schon in ihre Philosophie mit ein. Die Rede ist vom Zins. Als »Bürge« sind die Kaufleute Eigentümer von Geld; und daraus erwuchs das Ziel, das sich nun nur noch auf die reine Quantität des Geldes bezog. Geld wurde so zum zinstragenden Kapital.

Während hauswirtschaftliches oder technisches Handeln stets in seinem konkreten Zweck ein Maß besitzt, ist das Streben nach einer Vermehrung des Geldes um des Geldes willen in seiner Natur ohne Ende, ohne Grenze, es ist »unendlich«. Aristoteles kritisierte aus eben diesem Grund das Bestreben, den Geldbesitz »ins Unbe­grenzte« zu ver­mehren; er sagte, dies sei »am meisten gegen die Natur«.[10] Diese Geldvermehrung im Zins wird von Aristoteles (und in der mittelalterlichen Philosophie) als ein quasi »parasitäres« Ziel verstanden. Der Kaufmann privatisiert eine soziale Funktion (die Tauschvermittlung) zu seiner Bereicherung.

Doch damit nicht genug. Das Streben nach Geldvermehrung um des Geldes willen kehrt das Verhältnis von Handwerk (Produktion) und Austausch schrittweise um. Die Kaufleute beginnen, zur Erlangung eines Zinses, im Interesse der Geldvermehrung, die gesamte Produktion diesem Ziel zu unterwerfen. Das unendliche Streben der »Kaufmanns­seele«[11] unterwirft schrittweise das Handwerk, die Agrarwirtschaft und stürzt die soziale Produktion in einen unaufhörlichen Wandel. Denn es liegt in der Natur dieses »widernatürlichen« Strebens nach unendlicher Geldvermehrung, daß es nie sein Ziel erreichen kann. Es gibt keine aktual-unendliche Geldsumme. Der Widerspruch zwischen dem unendlichen Zweck der Geldvermehrung und der Endlichkeit der Mittel für diesen Zweck entfaltet sich deshalb zeitlich, als Prozeß der permanenten Umwälzung der Mittel.[12] Das menschliche Handeln wird in immer mehr Bereichen diesem endlosen Ziel unterworfen. In der Gegenwart erreicht dieser Prozeß seinen globalen Kulminationspunkt.

 

»Geld auf Zeit« - der Zins

 

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind schier unüberschaubar und durchziehen nicht nur alle Bereiche menschlichen Handelns, sie finden auch ihren Niederschlag im Denken, ja in der Metaphysik. Es ist notwendig, zur Erläuterung dieser Dynamik kurz auf die Eigentümlichkeit der Verzinsung einer eingesetzten Geldsumme zu blicken. Der Zins ist in seinem innersten Wesen ein Zeitphänomen. Eine vorgeschossene Geldsumme soll - nach einer Zeitspanne - vermehrt zurückfließen werden. Diese allgemeine Struktur des Zinsphänomens umfaßt drei unterschiedliche Aspekte: den Zins auf verliehenes Geldkapital, den Unternehmensgewinn sowie reine Preisänderungen, die - durch die Privatisierung von Marktprozessen im kaufmännischen Interesse - zu Spekulationsgewinnen führen. Diese letztere Form des »Zinses« ist in der Gegenwart zu einer dominanten Gestalt geworden. In allen drei Fällen spielt die Zeit, das Timing eine wesentliche Rolle. Kapital wird in der betriebswirtschaftlichen Literatur als »Geld auf Zeit« definiert. Es ist eine Geldsumme (verkörpert in irgendeiner Anlageform), die nach einer Zeitspanne vermehrt zurückfließt. Je kürzer die Zeitspanne ist, desto eher erlaubt dies die Wiederanlage des Kapitals, um erneut einen Zins abzuwerfen.

Durch das kaufmännische Zins- oder Gewinnstreben taucht damit ein eigentümliches Ziel menschlichen Handelns auf, das sich in seiner Zeitlichkeit von den natürlichen Rhythmen der Produktion vollständig zu emanzipieren trachtet. Die schrittweise Gewinnung der Herrschaft über die Produktion im Dienst des Marktes ist zugleich eine Eroberung der Zeit. Man holt den Lauf der Gestirne in Planetarien auf die Erde, woraus sich die mechanische Uhr als universelles Meßinstrument der Zeit entwickelt. An die Stelle des Umlaufs der Sonne tritt der Schlag der  Kirchturmuhr. Wir tragen heute die »Zeit« als Uhr am Arm stets bei uns. Je schneller ein Vorgang abgewickelt wird, desto rascher kehrt die eingesetzte Geldsumme in die Hände dessen zurück, der sie vorgestreckt hat: In die Hände des Kapitalgebers, des Kapitalisten. Das allgemeine Resultat der Unterwerfung aller menschlichen Lebensbereiche unter die Herrschaft des Geldes, des Marktes und des damit verbundenen Strebens nach Kapitalverzinsung ist eine kontinuierliche Beschleunigung.[13]

Der Zinssatz ist das Verhältnis zwischen zusätzlichem Geldbetrag (Zins) und dem im Ausgangszeitpunkt eingesetzten Kapital. Formal ist der Zinssatz die Urform einer Wachstumsrate. Was Wachstum heißt, wird zunehmend bewußt durch die Schranken, auf die ein unaufhörliches Wachstum stößt. Eine Wirtschaft, die einen langfristig konstanten Zinssatz erwirtschaften soll, muß mit einer konstanten Rate wachsen. Einer Wachstumsrate von 3% entspricht ein Verdopplungszeitraum von 23 Jahren; eine Wachstumsrate von 10% führt bereits nach 7 Jahren zu einer Verdopplung entsprechender Größen (Sozialprodukt, privater Verbrauch, Energieverbrauch usw.). Wenn die Steigerung des Zinssatzes (Rendite, return of investment, relativer Kursgewinn etc.) erst zum allgemeinen Ziel wirtschaftlichen Handelns geworden ist, zieht dies im präzisen Sinn eine Beschleunigung aller durch die Ökonomie dominierten Prozesse nach sich.

Diese auch von ökologischen Autoren ins Bewußtsein gehobenen Zusammenhänge zwischen Wachstum und Verdopplungszeiträumen haben ihren Grund in einer ökonomischen Struktur, deren Bezug zur Zeit meist gar nicht gesehen wird. Die Herrschaft des Ziels der Kapitalverzinsung unterwirft nicht nur eine ganze Welt ökonomischen »Sachzwängen« - insofern ist der Kaufmann der »Herr der Welt« - sie führt auch zu einer permanenten Beschleunigung aller Abläufe und Prozesse. Wenn Theodor Haecker vom »Fürst dieser Welt« sagt, »er beschleunigt ihren Gang; und das ist das teils offenkundige, teils geheime Geschehen unserer wie aller Tage auf der ganzen Welt«[14], dann können wir diesen apokalyptisch gemeinten Satz als einfache Folgerung aus der Struktur dessen ableiten, was Max Weber die »Kaufmannsseele« nannte.

 

Mechanische Zeit

 

Die Unterwerfung der Welt unter das Maß des Geldes und der Zwang zur Beschleunigung aller Abläufe als Schatten des Strebens nach Kapitalverzinsung hat auch das Denken tief geprägt, und diese Prägung, obgleich sehr naheliegend, ist gerade wegen dieser Nähe gerne übersehen worden. Bereits in der Philosophie von Aristoteles, der das Zinsnehmen strikt bekämpfte (wie Platon vor ihm), zeigen sich Spuren jener sozialen Struktur, die sich anschickt, alles Handeln der Zahl, der bloßen Quantität zu unterwerfen. Zwar bekämpfte Aristoteles die pythagoräische Idee des späten Platon, daß Ideen letztlich Zahlen seien, doch auch er begreift die Zahlen als etwas, das die Dinge einhüllt und subsumiert. Vor allem die Zeit wird von ihm in diesem Horizont ausgelegt. Zeit ist »das Maß der Bewegung«, genauer bestimmt als »die Zahl der Bewegung«.[15] Die philosophische Abstraktion des »Einen«, an dem sich das »Viele« mißt, findet seine soziale Form im Geld; jener Größe, die nach der Lehre der Nikomachischen Ethik »durch ein gemeinsames Maß« die Gemeinschaft der Tauschenden herstellt.[16]

Ich will keineswegs sagen - wie das marxistische Autoren oder auch Adorno nahelegen -, daß das Prinzip der Abstraktion aus dem Tausch erwachsen ist oder diesen nur »widerspiegelt« - eine Auffassung, die übrigens auch von liberalen Ökonomen vertreten wurde.[17] Wichtig ist die Einsicht, daß das menschliche Handeln immer schon ein mit Bewußtsein vollzogenes ist, daß also sich die Formen des Denkens und Tuns gleichursprünglich wandeln werden und müssen. (Jede »Widerspiegelung« beruht auf einer Kausalitätsvorstellung zwischen getrennten Entitäten - Handeln ist aber als bewußte Tätigkeit in sich Denken und Tun.[18]) Geldverwendung und abstrakte Reflexion gründen in einem Typus menschlichen Handelns, das die platonische Trennung in Ideenschau und handwerklicher Verrichtung übersteigt. Das Novum kaufmännischen Handelns ist auch ein Novum im Denken: die abstrakte Berechnung von dem Denken zu unterwerfenden Gegenständen.

Schon die Wortbedeutung von ratio weist darauf hin: ratio heißt ursprünglich »Rechnung«, »Rechnungen stellen«, aber auch »Geldgeschäfte abwickeln«, erst daraus abgeleitet findet sich die Bedeutung von »Gesetzmäßigkeit«, »Denkart«, »Beschaffenheit« und schließlich »Grund« und »Vernunft«.[19] Das Ziel, die ganze Welt der Zahl zu unterwerfen, die Natur rein quantitativ auszulegen, wird zum Programm der Moderne und zu ihrer Rationalität. Wenn Descartes Körper in den Raum und den Raum durch die analytische Geometrie wiederum in die Zahl auflöst, dann wird dieser Horizont unabweisbar. Hobbes spricht ihn explizit aus: »Unter rationel­ler Erkenntnis vielmehr verstehe ich Berech­nung«[20].

Die Naturwissenschaft entwickelte sich als mechanische Denkform, in der das Modell der Maschine eine zentrale Rolle spielt. Und das Vorbild aller Systeme und Maschinen ist die Uhr. Die Uhr wird zum Weltmodell, ein Modell, das - einmal formuliert und zur Anschauung gebracht - wiederum umgekehrt zur Erklärung des Planentenlaufs herangezogen wird. Newtons Physik ist die - freilich nur vorläufige - Vollendung dieser Denkform. Die Zahl, die an der Bewegung des Uhrzeigers abgelesen wird, ist die Verwirklichung der aristotelischen Zeitdefinition, Vorbild aller Meßgeräte und bis zur modernen Physik Grundlage des Zeitbegriffs: Zeit ist definiert durch die an »der Uhr ... gezählten gleichartigen Teilvorgänge«[21].

Dieser mechanische Zeitbegriff wurde auch zum Modell der Zeitauffassung in jener ökonomischen Theorie, die heute weltweit als Paradigma akzeptiert wird (in der Nachfolge der klassischen Ökonomie von Adam Smith als »neoklassisch« bezeichnet). Sie übernimmt das Weltbild der mechanischen Physik und Philosophie, und bereits Adam Smith hat den Weg hierfür vorgezeichnet. Die ökonomische Wissenschaft wird zu einer apologetischen Ästhetik, in der das Wunder des Marktes und seiner Funktionen gepriesen wird: »Es macht uns Ver­gnügen, die Vervoll­komm­­nung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hinder­nis, das auch nur im mindesten die Regelmä­ßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben.«[22] Als Vorbild eines »Sy­stems« gilt für Adam Smith die Maschine: »Ein System ist eine imaginä­re Maschine, die in der Vor­stellung jene ver­schiedenen Bewe­gungen und Effekte verbindet, die in der Wirklich­keit ohnehin verbunden sind.«[23]

In dieser mechanischen Auffassung des menschlichen Handelns, die durch den Neoliberalismus in der Gegenwart geradezu zu einer Verklärung des Marktes geführt hat, verbirgt sich eine Zeitauffassung, die in der Physik schon lange als überwunden gilt. Leitbild der modernen Wirtschaftswissenschaft ist das »Gleichgewicht«. Das ist nicht verwunderlich, weil mechanische Gesetze dadurch charakterisiert werden können, daß jegliche Dynamik auf die Statik reduzierbar ist.[24] Die Mechanik kennt eigentlich nur relative Bewegungen von Körpern zueinander, und weil auch die Uhr »ein Körper bzw. ein körperliches System in diesem Sinne«[25] ist, weil Bewegungen durch Gleichungen beschreibbar sind, wird die Zeit aus der Mechanik eliminiert. Wahr ist nur die raum- und zeitlose Ordnung der Naturgesetze; alle Bewegung ist Schein. Dieser Platonismus der relativistischen Physik[26] führt mit der Übernahme des mechanischen Denkmodells in den Wirtschaftswissenschaften dort zu sehr seltsamen Konsequenzen.

Ich möchte einige dieser Konsequenzen kurz skizzieren.[27] Die wichtigste Konsequenz, auch unmittelbar für die Wirtschaftspolitik, ist das Leitbild, das Ideal der »Stabilität«. Mechanische Systeme können nur existieren, wenn sie stabil sind. Instabilität ist in der Mechanik identisch mit einer Zerstörung des Systems. Da das wirtschaftliche Leben vielfach Veränderungen zeigt, muß man alle Veränderungen in Preisen und Produktions- oder Verbrauchsmengen als Bewegung auf ein Gleichgewicht hin deuten. Preisbewegungen sind nur Schwankungen um einen Gleichgewichtspreis, um einen Trend. Eine analytische Methode, die Zeit unmittelbar auszuschalten, besteht in dem, was die Ökonomen »Periodenanalyse« nennen. Sie wählen eine »Zeitscheibe« und betrachten in dieser Zeitscheibe nur unveränderliche Zustände, Gleichgewichte; und auch ein Ungleichgewicht wird als Abweichung vom Gleichgewicht definiert.

Die praktische Schwierigkeit dieses Gedankens liegt schon darin, daß der Ort des Gleichgewichts unbekannt ist. Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen. Wenn die Forderung erhoben wird, daß die Löhne »zu hoch« seien, so ist zwar das Leitbild eines Gleichgewichts, das verfehlt wurde, unverkennbar; diese Forderung erweist sich aber als leer, weil das Lohnniveau, bei dem »Vollbeschäftigung« herrschen würde, unbekannt ist - in einer durch Innovationen permanent umgewälzten Wirtschaft notwendig unbekannt bleiben muß. Ein weiteres Leitbild ist das »stabile Preisniveau« in der Geldpolitik - in jüngster Zeit auch von der europäischen Zentralbank verkündet. Nun ist zwar eine Hyperinflation (wie 1923) sicherlich ein dynamisch-instabiles Phänomen, doch daraus ist keineswegs der Schluß zu ziehen, daß eine Inflationsrate von exakt Null wünschenswert wäre. Wichtige Argumente, auf die schon David Hume hinwies, sprechen dagegen.[28] Auch hier ist die Hauptschwierigkeit darin zu suchen, daß der statische Begriff des Gleichgewichts in einer dynamischen Wirtschaft in die Irre geht. Man kann dies leicht daran erkennen, daß es ein exaktes Maß für Preisstabilität nicht geben kann: Durch Qualitätsänderungen, das Ausscheiden alter und das Hinzukommen neuer Güter muß jede Preismessung mit einem unveränderlichen Warenkorb Fehler ausweisen.

Die Wirtschaftstheorie wird durch die Anwendung des mechanischen Denkmodells, das heute immer noch das gültige, ja sogar vermehrt popularisierte Paradigma in den Wirtschaftswissenschaften ist, in geradezu absurde Konsequenzen getrieben. Die mechanische Modellzeit beruht auf der These, daß alle Bewegungen, alle Prozesse mit Uhren synchronisiert sind oder werden können. Das Gesamtsystem aus bewegten Teilen und Uhr ist jedoch zeitlos. Die Frage nach der »Lebensdauer« eines bewegten Körpers ist sinnlos - deshalb wird auch in der Anwendung der Mechanik auf die Ökonomie die wirtschaftende Person aller menschlichen Eigenschaften entkleidet. Die neoklassische Standardökonomie unterstellt »ein weder altern­des, noch je sterben­des Individu­um«.[29] Das ist nur die zur Anschauung gebrachte Vorstellung der Zeitlosigkeit, die einem mechanischen Modell zugrunde liegt. Zeitlosigkeit ist eigentlich Ewigkeit, also für die handelnden Subjekte dieser Modellwelt »Unsterblichkeit«.

Der mechanische Horizont zeitigt allerdings noch weitere Konsequenzen, die nicht weniger absurd anmuten. Und ich betone nochmals, daß es sich hier um heute allgemein anerkannte Theorien handelt: So wurde Gary S. Becker für seine Anwendung der ökonomischen Modelltheorie auf nichtökonomische Lebensbereiche 1992 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt. Ein Teil seines Arbeitsgebietes ist die Gesundheitsökonomie, und hier kommt Becker zu dem erstaunlichen Ergebnis: »Entspre­chend dem ökonomischen Ansatz sind die meisten (wenn nicht alle!) Todes­fälle bis zu einem gewissen Grade ›Selbstmorde‹«[30] Ein anderer Nobelpreisträger - Robert Lucas - wurde 1995 geehrt für seine Theorie der »rationalen Erwartungen«. Sie unterstellt, daß die wirtschaftlich Handelnden alle relevanten Informationen im Wirtschaftsprozeß kennen und verwerten, mit der Konsequenz, daß sie künftige Preise vorwegnehmen, also durch Preisänderungen nicht mehr überrascht werden können. Dieser Gedanke impliziert nichts weniger als vollkommene Voraussicht - übrigens in der Standardökonomie eine fast allgegenwärtige »Annahme«. Eine völlig bekannte und berechenbare Zukunft verliert aber den Charakter, Zukunft zu sein, sie gehört nicht mehr der zeitlichen Ordnung an. Man braucht kaum darauf hinzuweisen, daß ein »rationaler Aktor«, mit vollkommener Voraussicht und vollkommener Kontrolle über seine Lebensspanne (wenn nicht unsterblich), sicher kein Mensch ist.

 

Freiheit und Nichtprognostizierbarkeit

 

Der Inhalt der ökonomischen Theorie ist - die wenigen Zitate konnten das schon zeigen -, im Sinn einer Erklärung unhaltbar. Menschen haben keine vollkommene Voraussicht, sie reagieren nicht mechanisch auf Preisänderungen, und schon gar nicht verfügen sie über ihre Lebensspanne im Sinn eines ökonomischen Kalküls. Unsere Sterblichkeit, von den Alten sogar als Definition des Menschen aufgefaßt (die »Sterblichen«), spielt in der Ökonomie nahezu keine Rolle. Menschen leben in einer historischen Zeit. Sie hegen Erwartungen bezüglich einer Zukunft, die als diese erwartete Zukunft bereits in der Gegenwart Handlungen bestimmt.[31] Die grundlegende Unsicherheit der Zukunft wäre sogar ein wesentlicher Grund für die Erklärung zahlreicher ökonomischer Phänomene, z. B. für die Bildung von Geldhorten, um kurzfristig zahlungsfähig zu sein.

Die traditionelle, mechanische Erklärung wirtschaftlichen Handelns stellt eigentlich physikalische Fragen: Wie kann eine Vielzahl von autonomen Individuen-Atomen, durch Nutzen- oder Gewinnmaximierung motiviert, ihre vielen Handlungen koordinieren? Genauer gesagt: Wie kann es gelingen, daß wirtschaftliches Verhalten mit einer Uhr synchronisiert wird? Was bei physikalischen Körpern schließlich zu einem zeitlosen Gesamtsystem führt, ist für menschliches Handeln ein bleibendes Rätsel. Menschen sind keine bewegten Atome. Ihre Handlungen unterhalten keine inne­re Relation zu einem bewegten Körper »Uhr«. Zwar können äußere Handlungsabläufe durch Uhren koordiniert werden; doch dies ist nicht das Wesen menschlichen Handelns. Es ist vielmehr jene Arbeit, die Aristoteles als Tätigkeit eines Sklaven bestimmt hat und das formal durchaus einer Maschine analog ist.

Dies, daß Menschen ein Bewußtsein von Zeit, daß sie eine Vergangenheit und Zukunft haben, daß sie sterblich und vergänglich sind, dies prägt auch das Handeln. Ein Bewußtsein von Zeit zu haben, das heißt auch: frei und kreativ sein zu können. Während ein Körper auf eine Einwirkung nur im Rahmen der physikalischen Gesetze reagiert, gibt es beim menschlichen Handeln die Möglichkeit einer kreativen Reaktion[32]. Diese kreative Reaktion hat eine doppelte Konsequenz: Sie verhindert erstens, daß man eine Handlungsweise entlang einer Zeitgerade mechanisch mit anderen Verhaltensweisen verkoppelt könnte, wie dies zwischen einem bewegten mechanischen Körper und einer Uhr möglich ist. Zweitens wird für andere die Reaktion auf eine Änderung von Situationen eben dadurch unvorhersehbar. Niemand kann sagen, ob eine Firma auf sinkende Marktpreise mit Kostensenkungen, Fusionsverhandlungen oder mit einem neuen Produkt reagiert.

Kreative Reaktion heißt für die Wirtschaft insgesamt, daß Abläufe nicht prognostiziert werden können - auch nicht als Aggregat. Der aus der Thermodynamik entlehnte Gedanke, die Unvorhersehbarkeit mikroökonomischer Strukturen könne dennoch makroökonomisch zu einfachen zeitlichen Bewegungsmustern führen, ist nicht haltbar. In der Thermodynamik kann man zwar sehr genau die Temperatur messen, ohne die Bewegung der einzelnen Luftmoleküle kennen zu müssen. Doch diese Moleküle verfügen eben nur über eine, zudem exakt berechenbare Reaktionsweise (beschrieben durch die Mechanik). Menschen können kreativ reagieren - sind damit unvorhersehbar -, sie können aber auch ihre Bewegungen durch vielfältige andere Kommunikationsformen koordinieren. Lange, bevor sie in einen ökonomischen Austausch treten, sind sie bereits durch Sprache, Familie, Religion etc. in einen sozialen Zusammenhang eingebunden. Sie bewegen sich nicht wie Moleküle in einem leeren Raum.

Übrigens hat sich auch in der Naturwissenschaft (z. B. bei Klimamodellen) gezeigt, daß die Bewegung relativ einfacher Moleküle makroskopisch nicht einfach prognostiziert werden kann. In der Chaos-Theorie erscheinen zeitliche Abläufe zwar als determiniert (wie in der Mechanik), sind aber so sensibel von den Anfangsbedingungen abhängig, daß Prognosen schwer oder unmöglich werden. Doch auch die Anwendung solcher Modelle für ökonomische Abläufe würde den Zeitbegriff unverändert lassen.[33] Denn chaotische Systeme setzen in ihrer mathematischen Form eine deterministische Kopplung zur Zeit voraus. Menschen bauen zwar Uhren und orientieren sich daran, aber sie sind in ihrer Freiheit nicht durch den Bezug zur Uhr bestimmt. Die mechanische Ökonomie verfehlt also ihren »Gegenstand«: den frei und kreativ denkenden und entscheidenden Menschen, der Vergangenheit und Zukunft in das Jetzt seines Handelns einbezieht.

 

Ökonomie als implizite Ethik

Durch das Bestreben, die physikalische Form der Theorie zu übernehmen und auf wirtschaftliche Tatbestände anzuwenden, gelangt die Wirtschaftswissenschaft - wie wir sahen - zu Konsequenzen, die »unrealistisch« zu nennen eine Untertreibung wäre. Der Grund ist allerdings einfach erkennbar, und er bezieht sich unmittelbar auf die Auslegung der Zeit in der Ökonomie. Wenn eine physikalische Theorie behauptet, das Verhalten von Körpern sicher prognostizieren zu können - vom Autobau bis zum Flug eines Space-Shuttles wird diese Voraussetzung praktisch umgesetzt -, so unterscheidet sich diese Form der Prognose grundlegend von den Prognosen in den Wirtschaftswissenschaften. Die Vorhersage, daß gemäß der Bewegung von Erde und Mond an einem bestimmten Tag Vollmond herrschen wird, ist völlig unabhängig von der Theorie. Anders in der Ökonomie. Hier ist der »Gegenstand« nicht ein toter Körper, sondern ein lebender Mensc­h, der zudem fähig ist, theoretische Vorhersagen in seinen Handlungen zu berücksichtigen und sein Handeln entsprechend zu modifizieren. Gäbe es also eine korrekte Theorie künftiger Preisbewegungen, so würde das spekulative Interesse in der Anwendung dieser Theorie verhindern, daß die Vorhersagen der Theorie eintreffen. (Werden zuerst sinkende, dann steigende Aktienkurse »zutref­fend« prognostiziert, dann würden sich Händler im Kurstief mit Aktien eindecken, also solange kaufen, bis die Baisse sich in eine Hausse verwandelt hätte. Diese Anwendung der Theorie wäre zugleich ihre Falsifikation.)

Die zeitliche Beschreibung von potentiell freien Handlungen unterscheidet sich notwendig und grundlegend von der Beschreibung toter Bewegungen von Körpern. Die Zeit des Handelnden ist eine andere als die Zeit leblosen Verhaltens. Der bewußt Handelnde hat eine Zukunft, und dieses gegenwärtige Haben einer Zukunft verhindert, daß mechanische Beschreibungen wirtschaftlicher Prozesse zutreffend sein können. Genauer gesagt: Sie können nur dann zutreffen, wenn freie Entscheidungen durch äußeren Zwang verhindert oder durch innere Gewohnheit einem, mechanischen Strukturen gehorchenden, Gesetz folgen. Nun spielen Gewohnheiten in der Wirtschaft  eine zentrale Rolle. Doch Gewohnheiten (des Produzierens, Konsumierens, in der Wirtschaftspolitik) sind immer veränderbar und werden gerade durch das permanente Gewinnstreben kaufmännischen Handelns unaufhörlich aufgelöst. Gewinne erwachsen aus Veränderungen (Innovationen), während die Wiederholung des Gleichen das Handeln für Wettbewerber berechenbar und damit profitabel manipulierbar macht.

Die Frage ist also nicht, weshalb die mechanischen Bilder der Wirtschaftswissenschaft schlicht unzutreffend sind, die Frage lautet vielmehr: Weshalb werden sie entwickelt, verteidigt, ausgebaut und gelehrt? Prognosen von Wirtschaftswissenschaftlern werden nicht einmal von ihnen selbst wirklich ernst genommen, aber sie werden immer wieder gemacht und öffentlich diskutiert (etwa bei der Veröffentlichung des monatlichen Berichts der Zentralbank oder bei der Vorstellung eines Gutachtens von Sachverständigen aus Forschungsinstituten). Würde je ein physikalisches Modell, das etwa die Flugbahn von bewegten Körpern beschreibt, wiederholt angewendet, wenn es in dieser Anwendung permanent scheiterte? Man braucht die Frage nur zu stellen, um auf die grundlegende Diskrepanz zwischen Natur- und Wirtschaftswissenschaft hinzuweisen. Damit wird aber die Frage nur noch unabweisbarer: Weshalb werden offenkundig empirisch irrelevante Theorien überhaupt vertreten?

Die Theorien der Wirtschaftswissenschaften werden durchaus angewendet, dies allerdings völlig anders als naturwissenschaftliche Sätze in der Praxis der Technik. Ökonomie ist keine empirische Theorie, sie ist eine implizite Ethik. Sie besitzt zwar formal die Struktur einer erklärenden Wissenschaft, aber sie erfüllt eine andere Funktion: »Erklärungen« in der Ökonomie sind faktisch Handlungsanleitungen und deshalb implizit moralische Sätze.[34] Es ist keine explizite Morallehre, die als solche auftritt. Die moral science »Ökonomie« schreibt Handlungen dadurch vor, daß sie Handlungserklärungen in politische Ziele oder in Prognosen für politisches Handeln verwandelt. An die Stelle eines moralischen Gesetzgebers treten »ökonomische Notwendigkeiten«. Sie heißen »Sach­zwang«, »Effizienzsteigerung«, »Globalisierung« usw. Die ökonomische Theorie erfüllt eine Funktion als Ethik des wirtschaftlichen Handelns, denn durch die ihre Thesen werden Deregulierung, Geld-, Steuer- oder Lohnpolitik als »wirtschaftliche Notwendigkeit« behauptet und der Egoismus der Wettbewerbsgesellschaft als conditio sine qua non des mechanischen Gleichgewichts verklärt. Faktisch dient die Wirtschaftswissenschaft dem, was wir oben als die »allgemein Beschleunigung« aller ökonomischen Prozesse beschrieben haben, als Effizienzsteigerung und wachsende Macht der Geldziele über alle Lebensbereiche. Die Wirtschaftswissenschaft ist keine bloße »Nebelbildung« einer autonomen ökonomischen Basis, wie Marx vermutete, denn es gibt kein wirtschaftliches Handeln ohne Handlungsbewußtsein - und dieses Handlungsbewußtsein hat sich in der Moderne als »Wissenschaft« konstituiert. Sie ist die theoretische Form, in der sich kaufmännisches Handeln als wirtschaftliche, technische und politisches Macht weltweit durchsetzt und etabliert.

Die unumschränkte Herrschaft des Marktes, Voraussetzung eines globalen kaufmännischen Tuns, wird in der modernen Wirtschaftswissenschaft dadurch zur praktischen Forderung, daß sie Marktprozesse als mechanische, autonome Strukturen beschreibt, die aus sich selbst heraus ein Gleichgewicht finden. Durch die Erklärung, der Markt finde bei aller Bewegung immer ein mechanisches Gleichgewicht - dies ist das »klassische Dogma« der Ökonomie[35] -, ist die Forderung impliziert, alle Handlungen an dieser Marktlogik der »Effizienz«, der »Gewinnorientierung« auszurichten. Die meist zaghaft und nur selten massiv vorgetragene Kritik, der Markt könnte aus sich selbst auch Situationen hervorbringen, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung und künftiger Generationen nachteilig sind, wird in der Regel mit dem Hinweis auf die Unvermeidlichkeit, »sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen«[36], beiseite geschoben. Das ist der Grund, weshalb jede Kritik an den Wirtschaftswissenschaften abgleitet und in der Gegenwart sogar zu einem unvermuteten Triumph schon lange überholt geglaubter Theorien wie dem Neoliberalismus geführt hat.

 

Stationäre Utopie oder ökonomische Apokalypse?

 

Die Wirtschaftswissenschaft hat den offenkundigen Widerspruch zwischen ihrer mechanisch-statischen Form und der auf unvorhersehbaren Entscheidungen beruhenden Wirtschaft zwar verspürt, aber auf ihre sehr eigentümliche Weise aufgegriffen. Die immer wieder behauptete Tendenz hin zu einem Gleichgewicht, das dennoch empirisch nie beobachtet wurde, führte zu einer für die Ökonomie charakteristischen Denkfigur. Da die »Gesetze« der Wirtschaftswissenschaften mechanischen und damit statischen Gleichgewichtscharakter besitzen, mußten die Ökonomen zugestehen, daß dieses Gleichgewicht aktuell nicht existiert. In der Zeit der klassischen Nationalökonomie empfanden die Ökonomen noch diesen Widerspruch unmittelbar und versuchten, ihn aufzulösen.

Heinrich von Thünen hat dies sehr klar ausgesprochen. »In der Wirklichkeit«, sagt er, »ist alles Erscheinende nur Über­gangsstufe zu einem unerreichten noch fernen Ziel.«[37] Also ist die beobachtete Wirklichkeit nur eine Bewegung auf das Gleichgewicht hin, und Thünen begreift dies nicht als temporäre Marktanpassung, sondern als historischen Prozeß. Was an der Gegenwart unverständlich erscheint, kann gar nicht begriffen werden, weil Gleichgewicht (Berechenbarkeit) und Vernunft Synonyme zu sein scheinen. Doch in der utopischen, fernen Zukunft herrscht dann jene Ordnung als Wirklichkeit, die bereits heute das Modell analysiert wird: »Mit dem erreich­­ten Ziel tritt Ruhe und damit der behar­rende Zustand ein ) und hier erblicken wir Gesetzmäßigkeit, während in der Über­gangsperiode Manches uns als ein unentwirr­bares Chaos er­scheint.«[38]

Auch der einflußreiche schwedische Ökonom Knut Wicksell löste die Frage auf diese Weise. Er bemerkte, daß viele der von der ökonomischen Theorie postulierten Zusammenhänge empirisch nicht zu beobachten sind. Der Grund dafür »dürfte doch wohl darin liegen, daß unsere modernen Gesell­schaften in so hohem Grade von dem stationä­ren Typus abwei­chen.«[39] Dieser Satz ist bemerkenswert: Die dominant vertretene neoklassische Theorie der Wirtschaftswissenschaften  ist deshalb falsch, weil sie einen ganz anderen Gegenstand beschreibt. Doch anstatt die Theorie zu ändern, wird der vermeintliche Gegenstand festgehalten und als utopisches Ziel verkündet. Wir finden diesen Gedanken ebenso bei John Stuart Mill wie bei John Maynard Keynes, um zwei Autoren zu nennen, die in anderer Hinsicht völlig gegensätzliche Theorieformen vertreten haben.

Keynes malt den künftigen stationären Zustand farbig aus. Wir werden in dieser Zukunft (er sagte im Jahr 1930, dies sei in zwei bis drei Generationen der Fall) »zu einigen der am meisten sicheren und gewissen Prinzipien der Religion und traditio­neller Tugend« zurück­kehren.[40] Wir werden dann wieder, sagt Keynes, die Ziele höher stellen als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vor­ziehen. Meinte Thünen, der Gedanke an diese edle Zukunft sei ein Ansporn für gegenwärtige Arbeit (ein moralisches Prinzip, das im Sozialismus endlos angewandt wurde), so setzt auch Keynes sogleich eine Warnung hinzu: »Aber ge­mach! Die Zeit für all dies ist noch nicht reif. Für wenigstens weitere hundert Jahre müssen wir uns selbst und andere darauf verpflichten, daß Betrügen fair ist und Fairneß Betrug, denn Betrug ist nützlich und Fairneß ist es nicht. Gier, Wucher und Si­cher­heitsstreben müssen noch für ein wenig länger unsere Götter sein. Nur sie können uns aus dem Tunnel der ökonomischen Not­wendigkeit hinaus ins Tages­licht führen.«[41]

In diesen ökonomischen Hoffnungsbildern einer Welt erfüllter ökonomischer Wünsche (die Marx Kommunismus nannte) kulminierte in der Ökonomie die bestimmte Empfindung, daß die Modelle, die von den klassischen Ökonomen entworfen wurden, ihrem Gegenstand inadäquat waren. Die Gegenwart offenbart in ihrem »unentwirr­baren Chaos« eine ganz andere Zeitlichkeit als die Ewigkeit des mechanischen Gleichgewichts, dem ein - ich habe diesen Satz Knut Wicksells bereits zitiert - »weder altern­des, noch je sterben­des Individu­um« entspricht. Doch diese Welt hat keinen Ort, ist also U-topie.

Die dynamische Wirtschaft zeigt nämlich eine ganz andere Wirklichkeit, eine, die keinerlei Anstalten macht, auf ein Gleichgewicht zuzusteuern. Vielmehr ist die kaufmännische Rationalität der unendlichen Geldvermehrung dabei, alle Lebensbereiche global zu unterjochen und so jene Beschleunigung der Welt herbeizuführen, die - auch diesen Satz haben wir schon gehört - Theodor Haecker als Definition des »Herrn der Welt« einführte: »er beschleunigt ihren Gang«. Diese Beschleunigung des gesamten Lebens ist mit ihrer impliziten Ethik des Wachstums in einer endlichen Umwelt, in einer Welt mit endlichen Menschen eine zutiefst destruktive Tendenz. Dies gilt auch und gerade dann, wenn dieser Prozeß gleichzeitig und vermehrt Reichtümer und Güter für eine Minderheit der Weltbevölkerung hervorbringt. Die menschliche Zeit ist eine andere als jene »Ökonomie der Zeit«, die vielfach als Definition des Ökonomischen überhaupt gilt. Auch vor menschlichen Schranken macht die Unendlichkeit der Geldlogik keinen Halt: Sie kann nur die Vermehrung eines abstrakten Quantums als Ziel anerkennen, und für diese Abstraktion sind alle Besonderheiten nur zu überwindende Hemmnisse. Wenn menschliche Schranken diesen Prozeß aufhalten, dann steht nicht nur die traditionelle Kultur, sondern auch der biologische Mensch in seinen Möglichkeiten zur Disposition. Die technischen Mittel dafür sind geschaffen.

Allerdings kann ein unendliches Ziel nicht in einer endlichen Umwelt realisiert werden. Dieser grundlegende Gegensatz, der die Marktwirtschaft von ihrem Anbeginn jeweils lokal angetrieben hat, ist zu einem globalen Gegensatz geworden. Das Kapital besitzt keine innere Schranke, wie Marx und die klassischen Ökonomen (Malthus, Ricardo, Mill) vermuteten, wenn sie auf das Erreichen eines stationären Zustands hofften. Es gibt für das Ziel der Kapitalverzinsung keine Grenze; jede erreichte Geldsumme ist zu klein bezogen auf das Bestreben, sie noch weiter zu vermehren. Mensch und Erde kennen aber Schranken. Deshalb muß neben diese unendliche Zeit der mechanischen Kapitalverzinsung, des mechanischen Wachstums eine historische Zeit treten, die ein Ende kennt. Bei einer unveränderten Rationalität des Wirtschaftens kann dieses Ende nur durch eine Katastrophe erreicht werden. Die Menschen können das erkennen und besitzen - wenigstens prinzipiell - das Potential, diese »apokalyptische Beschleunigung« aufzuhalten, bevor sie von außen begrenzt wird. Ob dieses Wissen ihr Handeln lenken wird, daran ist begründet zu zweifeln.

 

 

 

 

 


 

Literatur

 

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[1] Thomas von Aquin, Summa Theologica I 44,4, Deutsche Thomas-Ausgabe Bd. 10, S. 134f.

[2] B. Franklin, Guter Rath an einen jungen Handwerker (1748), Leben und Schriften, zwei­ter Band, Ham­burg-Leipzig-St. Peters­burg o. J., S. 20.

[3]Vgl. z. B. P. Virilio, Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München 1989.

[4]Die duale Formulierung »Minimierung des Mitteleinsatzes für einen gegebenen Zweck« führt formal zu denselben Ergebnissen.

[5]Vgl. F. Wagner, Das Bild der frühen Ökonomik, Salzburg-München 1969; I. Richarz, Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik, Göttingen 1991.

[6]Aristoteles, Oikonomikos 43a, übers. v. U. Victor, Königstein/Ts. 1983, S. 90.

[7]a.a.O. 44b, S. 100.

[8]Vgl. dazu ausführlich K.-H. Brodbeck, Erfolgsfaktor Kreativität. Die Zukunft unserer Marktwirtschaft, Darmstadt 1996, Kapitel 14, besonders S. 201ff.

[9]Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133b 10f.

[10]Aristoteles, Politik 1258b.

[11]M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19683, S. 394.

[12]Die Zeit ist das »Sein« des Widerspruchs einer aktualen Unendlichkeit.

[13]Man vergleiche den römischen Rechtssatz: Minor solvit qui tardius solvit; (wer zu spät leistet, leistet zu wenig).

[14]T. Haecker, Der Christ und die Geschichte, Leipzig 1935, S. 124. Vgl. J. Pieper, Über das Ende der Zeit, München 1950, S. 143f.

[15] Aristoteles, Physik IV, 11 und 12, 220a bzw. 221a.

[16]Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133b.

[17]»Ge­schicht­lich ist der menschliche Rationalismus aus der Wirt­schaft erwach­sen«.  L. von  Mises, Die Wirtschafts­rechnung im sozialistischen Gemeinwe­sen, Archiv für So­zialwis­senschaft und Sozialpoli­tik, 47 (1920/21), S. 100.

[18]Vgl. K.-H. Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, Teil 5; ders., Erfolgsfaktor a.a.O, Kapitel 9-11.

[19]Zur ganz anderen Auslegung des Denkens in den asiatischen Traditionen vgl. K.-H. Brodbeck, Der Spiel-Raum der Leerheit. Buddhismus im Gespräch, Solothurn-Düsseldorf 1995.

[20]T. Hobbes, Vom Körper, Ham­burg 1967, S. 6.

[21]A. Einstein, Grundzüge der Relativitätstheorie, Braunschweig 19654, S. 2.

[22] A.  Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1977, S. 318.

[23] A. Smith, Essays on Philosophical Subjects, London 1795, S. 44; meine Übersetzung.

[24]Vgl. M. Planck, Einführung in die Allgemeine Mechanik, Leipzig 1920, S. 167f. und S. 172f.

[25]Einstein a.a.O., S. 2.

[26]Durch die Thermodynamik, die Quantenphysik und die Chaostheorie hat sich in der Physik inzwischen ein anderer Zeitbegriff herauskristallisiert, den vor allem Ilya Prigogine mit Nachdruck vertritt.

[27]Ausführliche Belege für die in dieser Skizze vorgetragenen Gedanken finden sich in Brodbeck, Die fragwürdigen Grundlagen a.a.O. und ders., Erfolgsfaktor a.a.O., Teil I.

[28]Vgl. K.-H. Brodbeck, Zur Aktualität der Geldtheorie von David Hume; mit einem Reprint von »On Money« von David Hume; in: praxis-perspektiven Band 3 (1998), S. 59-65.

[29] Wicksell K. Wicksell, Vorlesungen über Nationalökonomie, Erster Band, Jena 1913, S. 280.

[30] G. S. Becker, Der ökono­mische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübin­gen 1982, S. 9; Beckers Einfügung.

[31]Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 197212, § 65.

[32]Der Begriff der »kreativen Reaktion« wurde von Josef A. Schumpeter eingeführt: The Creative Response in Economic History, Journal of Economic History 7 (1947), S. 149-159.

[33]Auch ein früheres Ich des Verfassers hegte einmal, wie einige Ökonomen heute, die Hoffnung, durch die Anwendung neuer mathematischer Methoden eine qualitative Verbesserung ökonomischer Modelle erreichen zu können; vgl. K.-H. Brodbeck, Produktion, Arbeitsteilung und technischer Wandel, Düsseldorf 1981.

[34]Dies wird, wenn auch eher »augenzwinkernd«, von Wirtschaftswissenschaftlern durchaus zugestanden. So sagt das frühere Mitglied des deutschen Sachverständigenrates Ernst Helmstädter: »Zur Warnung vor Fehlentwick­lungen eben schon mal eine Fehlprognose!« Handelsblatt vom 24.1.1995. Die hier unterstellte Souveränität über Wahrheit oder Falschheit einer Prognose ist freilich schlicht eine Anmaßung - die Prognosen des Sachver­ständigenrates sprechen eine andere Sprache: Die eines politischen Interesses oder des Scheiterns.

[35]Vgl. Brodbeck, Erfolgsfaktor a.a.O., Teil I.

[36]Eine Formulierung, die gleichlautend aus FAZ, Süddeutscher Zeitung, Handelsblatt und aus Äußerungen zahlreicherer Politi­ker zu entnehmen war und ist.

[37] J. H. von Thünen, Der isolirte Staat, Zweiter Theil, Berlin 1875, S. 35.

[38] Thünen, Staat aaO.

[39] K. Wicksell, Vorlesungen aaO., S. 285.

[40] J. M. Keynes, Essays in Persuasion, Collected Writings Vol. IX, S. 330; meine Übersetzung.

[41] Keynes, Essays aaO., S. 331.

 

 

 

 

 

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