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Was heißt eigentlich
sabbe dhamma anatta?

 

- werde ich oft gefragt.

Hier eine sehr kurze Antwort: Der Satz ist in Pali formuliert, der Sprache, in der die ältesten buddhistischen Texte überliefert sind. Er besagt: Alle Phänomene sind ohne ein „Selbst“.

 


Und hier eine etwas längere Antwort:

sabbe = alle
dhamma = Gebilde, Phänomene, Dinge, Erscheinungen, Wesen etc.
an-atta = Nicht-atta oder nicht Selbst. (Sanskrit: An-Atman)

Der Satz stammt (er kommt so mehrfach vor) aus einer Sammlung von Reden Buddhas mit dem Titel Anguttara-Nikaya („Angereihte Sammlung“), die zum Pali-Kanon gehört, und zwar aus dem Buch III, Kapitel 137. Es ist eigentlich einer von drei Sätzen, die lauten:

1) sabbe dhamma anicca = Alle Phänomene sind vergänglich
2) sabbe dhamma dukkha = Alle Phänomene sind letztlich frustrierend, leidhaft
3) sabbe dhamma anatta = Alle Phänomene sind ohne Selbst (ohne bleibenden Kern)

Das ist Buddhas Antwort auf die Frage, was wir in dieser Welt zu erwarten haben, in die wir hineingeboren sind.

Wir sind mittendrin in einer großen Illusion, die gleichsam zwei Enden hat. Ein Ende ist der Glaube, daß wir ein unabhängiges, nur für uns vorhandenes Wesen haben oder sind (= Selbst); das andere Ende projiziert diesen Glauben auf alle Phänomene (= Substanz), sagt „mein“ oder „nicht mein“ zu ihnen und ergreift diese Phänomene. Wie? Dadurch, daß sie zuerst mit dem Denken begriffen werden (s. „Be-Griff“), dann nehmen wir dazu Stellung („mag ich“, „mag ich nicht“), und schließlich haften wir daran.

Doch dieses Ergreifen der Phänomene, das Festhalten von Dingen und von uns selber, das mißlingt immer wieder. Wir machen die Entdeckung, die in Satz 1) ausgedrückt ist: Alles ist vergänglich, auch wir selbst. Weil wir aber dennoch weiter ergreifen und festhalten, deshalb geraten wir in Widerspruch zu dem, wie die Welt wirklich ist (nämlich vergänglich). Daraus entsteht die Erfahrung des Unbefriedigtseins, der Leidens (Trennungen, Verlust von Menschen, Tieren, Sachen usw.), die uns verwirrt und dazu führt, immer mehr ergreifen zu wollen. (Die Geldgier ist die vollkommenste Form dieses verblendeten, verwirrten Handelns.) Also folgt aus Satz 1) die Erfahrung von Satz 2). Wenn wir nun diese Erfahrung erkennen, dann bemerken wir, daß der eigentliche Fehler schon am Anfang lag: Im Glauben daran, daß es Phänomene, Lebenwesen, Dinge etc. gäbe, die sind, was sie scheinen - nämlich für sich existierende, bleibende Phänomene, Lebewesen oder Dinge. Dieser Glauben ist ein Irrtum, ein Nichtwissen. Im späteren Buddhismus (vor allem in der Lehre Nagarjunas) wird ein systematischer Weg vorgestellt, wie man alle scheinbaren Theorien auflösen kann und erkennt: Die Welt ist ein Spiel der Leerheit. Dies einzusehen, bedeutet Erlösung („Erleuchtung“) und Befreiung von der Welt. Freilich: Man muß nichts weniger als sich selber loslassen.

Der Satz 3) sabbe dhamma anatta drückt damit den Kernsatz des Buddhismus aus, genauer des Wissens, das durch die vielfältigen Übungen, Lehren usw. des Buddhismus erreicht werden kann - wenn man will. Niemand ist gezwungen, diese Einsicht „zu glauben“. Doch wenn man es satt hat, immer nur wieder von einem Irrtum zum nächsten zu taumeln, dann kann man es einfach versuchen, seinen Geist in seinen verwirrten Funktionen zu erkennen (= Meditation) und die Welt in ihrer Offenheit und unaufhörlichen Veränderbarkeit (= Vergänglichkeit und Kreativität) zu durchschauen (= Kontemplation).

Die im Satz sabbe dhamma anatta ausgedrückte Einsicht führt zu einer ethischen Praxis. Der Kern dieser Praxis ist die Achtsamkeit: Das Achten auf alles, was man denkt, fühlt und tut, aber auch das Achten anderer Menschen und Lebewesen, die Haltung, andere Wesen in ihrem Lebensrecht nicht zu beeinträchtigen. Das ist die Form des universellen Mitgefühls. Der Buddhismus ist eine Praxis der Erkenntnis und des Mitgefühls, und beides ist eigentlich dasselbe. Weder Ideologien, Religionen, noch Menschen oder ganze Staaten haben ein „Selbst“, einen ewigen Kern. Wer das irrtümlich glaubt, verfällt in das, was Buddha die „drei Gifte“ nennt: Unwissenheit, Begierde, Aggression. Weil sein Handeln (oder das Handeln ganzer Gruppen, Unternehmen, Staaten, Religionsgemeinschaften usw.) auf dem Irrtum des Glaubens an ein getrenntes Wesen beruht, muß dieser Irrtum unentwegt „künstlich“ aufrechterhalten werden. Das gelingt nur, wenn man sein (privates, nationales, ethnisches, religiöses usw.) Ego-Territorium beständig durch begieriges Ergreifen von anderem „ernährt“ und wenn man andere, die ihr Ego-Territorium auch verteidigen, aggressiv bekämpft und dabei immer in der Illusion bleibt, man habe ein von anderen getrenntes Wesen für sich selbst.

Sabbe sattā bhavantu sukhitattā !

 

Mögen alle Wesen glücklich sein !

Karl-Heinz Brodbeck




© 2000-2008 K.-H. Brodbeck
17. Januar 2008